Arno Helmberg's HOMEPAGE

SKRIPTEN:

-Immunologie
-Herz-Kreislauf
-Pathophysiologie d. Niere
-Krebsentstehung
-Knochenstoffwechsel
-Muskelfunktionsstörungen
-Gicht







INHALT:

1.  Steinzeit-Anpassung
2.  Überernährung
    - Insulinresistenz
    - FTO-Gen, braunes Fett
    - Einfluss der Mikrobiota
    - Tipps zum Abnehmen
3.  Hohe Salzaufnahme
4.  Unterernährung
    - Kwashiorkor
5.  Appetit-Regulation
    - Portionsgrößeneffekt
    - Leptin
    - Hunger
    - PYY
    - GLP-1
    - Ghrelin
6.  Kohlenhydrat-Verdau
    - Glykämischer Index
    - Laktose-Intoleranz
    - Fructosemalabsorption
    - Fructose-Kontroverse
7.  Eisen
    - Hämochromatose
8.  Folsäure
9.  Vitamin B12
    - Perniziöse Anämie
10. Selen
11. Fettsäuren
    - Omega-3-Fettsäuren
    - Trans-Fettsäuren
12. Proteine, Magen
13. Ulcus
14. Protein-Verdauung
15. Pankreatitis
16. Zystische Fibrose
17. Zöliakie
18. Inflammatory bowel d.
19. Leber
Energiestoffwechsel
    - Resorptionsphase
    - Postresorptionsphase
    - Hungerphase
    - Ketogene Diät
    - Diabetes Mellitus Typ 1
    - Stg. Gluconeogenese
    - Metab. Syndrom
    - Metformin
Aminosäure-Stoffwechsel, Harnstoffsynthese
    - Säure-Basen-Regulation
Partikelfilter
Biotransformation
    - Cytochrom Oxidasen
    - CYP-Induktion
    - Xenohormone
    - Wechselwirkungen
    - -Alkohol-Abbau
    - -Paracetamol
Steroid-Inaktivierung
Bilirubin
Cholesterin
Cholestase
    - Gallensäuren
    - Gallensteine
Fettverdauung
Plasmaproteine
Portale Hypertension Hepatorenales Syndrom

 

SKRIPT ERNÄHRUNG UND VERDAUUNG

Arno Helmberg 

Dieses Skriptum ist eine Lernhilfe zu meiner Vorlesung im Modul "Ernährung und Verdauung" an der Medizinischen Universität Innsbruck. Es steht auch in einer pdf-Version sowie in einer Englischen Version zur Verfügung.

Version 6.0                 ©Arno Helmberg 2000 -2023


Nur um zu leben, und noch ohne irgendwelche Aktivitäten, benötigen wir bereits viel Energie: etwa 1 kcal (4,2 kJ) pro kg Körpergewicht und Stunde. Ein besonderer Energiefresser ist unser Gehirn, das bei nur 2 % unseres Körpergewichts ca. 18 % unseres Grundumsatzes verbraucht, egal, ob wir es in irgendeiner Weise sinnvoll in Anspruch nehmen. Der Rest unseres Energieverbrauchs in Ruhe geht an die Leber (26 %), Muskeln (26 %), Herz (9 %) Nieren (7 %) und was dann noch übrigbleibt (14 %). Abgesehen von diesem Brennmaterial, das wir verheizen, benötigen wir definierte "Bausteine und Geräte" für unseren Organismus, und wir müssen unnötige oder sogar toxische Moleküle wieder loswerden. Kurz, intensiver Stoffaustausch mit der Umgebung ist unumgänglich. Austausch beinhaltet Risiken. Gastrointestinaltrakt und Leber sind dafür zuständig, diese Aufgabe unter Minimierung der Risiken zu bewältigen.

Einfach ausgedrückt, ist die Strategie folgende: komplexe und damit risikoreiche Substanzen bleiben draußen. Dort werden sie in allgemein akzeptierte, sichere Bestandteile zerlegt. Nur diese werden über definierte Eintrittspforten importiert. Allerdings müssen wir zu dieser Politik Ausnahmen machen. Einerseits benötigen wir einige hochkomplexe Moleküle, die wir nicht selbst herstellen können, z. B. Vitamin B12. Um diese vor Verdauung zu schützen und zu importieren, brauchen wir spezielle Dienste, so wie es Spezialisten benötigt, um alte Gemälde unbeschadet über geographische und politische Barrieren zu transportieren. Andererseits müssen wir manche in den Darm sezernierten Substanzen in großen Mengen recyceln und setzen dazu, z. B. wegen der Vielgestaltigkeit von Gallensäuren und –salzen, relativ unspezifische Transportmechanismen ein, durch die manchmal auch gefährliches Material aufgenommen wird. Schließlich müssen wir, gerade um unsere Grenzen zu schützen, unserem Verteidigungssystem die Gelegenheit geben, sich mit den potentiellen Gefahren jenseits der Grenzen auseinanderzusetzen und diese von den zahlreichen harmlosen Nahrungsmittel-antigenen und gutartigen bakteriellen Symbionten unterscheiden zu lernen, die unser Organismus tolerieren soll. Zu diesem Zweck öffnen wir Kanäle via M-Zellen, über die wir kleine Stichproben komplexer Strukturen aufnehmen. Obwohl wir diese Kanäle sorgfältig überwachen, können sie manchmal dazu missbraucht werden, pathogene blinde Passagiere einzuschleusen.

 


1.  EVOLUTIONÄRE  GESICHTSPUNKTE

Was ist gesunde Ernährung? Diese Frage berührt jeden und löst manchmal heftige Auseinandersetzungen aus. Anhänger heißer Ernährungstrends bekämpfen einander mit Gusto. Der in reichen Ländern vielfach praktizierte tägliche Genuss von fettreichen Fleischprodukten, häufig stark gesalzen oder geräuchert als Wurst oder Speck, ist definitiv nicht gesund. Jedoch auch das Gegenteil, eine rein vegetarische oder vegane Ernährung, stellt eine Mangelernährung dar. Dabei muss zumindest Vitamin B12 supplementiert werden; darüber hinaus gibt es eine Reihe von potentiell kritischen Nährstoffen, besonders in bestimmten Lebenssituationen erhöhten Bedarfs: bei Babys, Kindern, Jugendlichen, Schwangeren und Stillenden. Dazu gehören Protein bezüglich Menge und Aminosäurenzusammensetzung, langkettige n‑3-Fettsäuren, Eisen, Zink, Vitamin D, Calcium und Jod. Nicht selten finden sich solche Mangelerscheinungen bei Kindern vegan lebender Eltern: In der besten Absicht gehen diese davon aus, dass die Ernährungsform, die sich für sie jahrelang bewährt hat, auch für die Kinder gut sein muss. Wenn auf potentiell kritische Nährstoffe geachtet wird und diese bei Bedarf supplementiert werden, ist eine vegetarische lebensweise durchaus gesund: Vegetarier haben weniger Herzinfarkte, Schlaganfälle und seltener Diabetes mellitus Typ 2, hohen Blutdruck sowie manche Krebsarten.

Um die Anforderungen unseres Organismus zu verstehen, hilft ein Blick in unsere Geschichte. Während der moderne Homo sapiens über die ganze Welt verbreitet lebt, ist das eine relativ neue Entwicklung. Aus Analysen von mitochondrialer DNA sowie des Y‑Chromosoms wissen wir, dass alle aus Europa, Asien, Australien und den amerikanischen Kontinenten stammende Menschen die Nachfahren einer relativ kleinen Gruppe von Emigranten darstellen, die vor 60.000 bis 70.000 Jahren Afrika und den Nahen Osten verließen. In evolutionären Maßstäben gemessen ist diese Zeit zu kurz für große genetische Anpassungsmechanismen. Mit anderen Worten, wir sind zu einem großen Ausmaß das Produkt von Selektionsmechanismen, die im Paläolithikum in Afrika herrschten. Wir sind auf Bedingungen der Altsteinzeit optimiert.

Leider ist es unmöglich, die Speisekarte dieser Zeit genau zu rekonstruieren, doch sind einige Eckpunkte sehr wahrscheinlich. Nahrung war oft knapp. Der Selektionsdruck favorisierte jene Individuen, die in der Lage waren, bei gelegentlich guter Versorgungslage effizient Fettreserven aufzubauen, um die langen Hungerperioden zu überstehen: Leute mit thrifty genes, sparsamen Allelen. Das fettarme Fleisch erlegten Wildes war begehrt, aber schwer zu erjagen. Für einen großen Teil der Ernährung war man daher auf Pflanzen angewiesen, Wurzeln, Knollen, Nüsse und in feuchteren Regionen, Früchte. Der Kohlenhydratanteil der Ernährung war generell geringer. Kohlenhydrate waren überwiegend komplexe Mischungen aus Stärke und unverdaulichen Fasern. "Süße" Einfachzucker wie Glucose oder Fructose gab es selten, z. B. in Beeren im Herbst oder in wildem Honig. Milch und Getreide, Produkte der neolithischen (Ackerbau‑) Revolution vor 10.000 Jahren, gab es noch nicht. Im Vergleich zu unserer durchschnittlichen Westlichen Ernährung enthielt die paläolithische Ernährung also wahrscheinlich mehr Protein und Ballaststoffe, mäßig Fett und weniger, vor allem weit weniger kurzkettige, Kohlenhydrate. Ausreichend Nahrung zu sammeln bedeutete tägliches Wandern und harte körperliche Arbeit. Um in der afrikanischen Sonne nicht auszutrocknen, war es für den Organismus notwendig, effizient Wasser zu sparen. Aus osmotischen Gründen bedeutete das auch, Salz zu sparen, das, außer an der Küste, knapp war.

Archäologische Funde belegen, dass die neolithische Revolution einen negativen Einfluss auf die Gesundheit des Individuums hatte. Die frühen Ackerbauern litten an Mangelernährung, waren kleiner, hatten schlechte Zähne und eine niedrigere Lebenserwartung.

Mit diesen Überlegungen möchte ich Bedingungen verständlich machen, die für unsere Ernährung und Gesundheit grundlegend sind. Ich möchte damit nicht suggerieren, dass wir uns wie in der Altsteinzeit ernähren sollten, obwohl ich glaube, dass eine solche Ernährung gesund wäre. Erstens ist das für die meisten von uns unmöglich. Das Fleisch der Altsteinzeit war etwas qualitativ anderes als das uns zur Verfügung stehende: Fleisch von Wild enthält wesentlich weniger Fett als das unserer Masttiere. Zweitens sind Getreideprodukte, Mais und Reis angesichts der Menge der benötigten Kalorien nicht zu ersetzen.  Wir müssen uns bei einer Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen anders verhalten als bei einer altsteinzeitlichen Zahl von höchstens einigen hunderttausend. Die Massentierhaltung, die nötig wäre, um so viele Menschen häufig mit Fleisch zu versorgen, ist ethisch und nach Klimaerwägungen wohl nicht vertretbar.

Der Ernährung unserer altsteinzeitlichen afrikanischen Vorfahren am nächsten kommt heute wahrscheinlich die "Mediterrane Ernährung". Zum Bedauern (wahrscheinlich nicht nur) des Schreibers dieser Zeilen ist damit aber nicht Pasta, Lasagne und Crème brûlée gemeint. Bei Untersuchungen nach dem 2. Weltkrieg fiel auf, dass die Menschen auf Kreta besonders gesund waren und besonders alt wurden. Diese rurale, körperlich hart arbeitende, gewiss nicht wohlhabende Population ernährte sich mit viel Gemüse, Salaten, Obst, Fisch und Olivenöl und mit wenig Hühner- und Schaffleisch sowie wenig Zucker.

Wir werden einen Kompromiss zwischen der biologisch optimalen und der ethisch wünschenswerten Ernährung finden müssen, der zudem auf der globalen Ebene wirtschaftlich machbar und fair ist. Doch ist das nicht das Thema dieser Vorlesung. Mein Ziel hier ist es, die gesundheitlich relevanten Aspekte der Ernährung verständlich zu machen.

 


2.  ÜBERERNÄHRUNG

Für Menschen, die heute in reich versorgten Ländern leben, ist die genetische Ausstattung der Altsteinzeit nicht optimal. Durch unseren bewegungsarmen Tagesablauf wird das Missverhältnis noch verstärkt. Was das Nahrungsangebot betrifft, leben wir in einem Dauerfest. Stellen wir uns dem nicht bewusst entgegen, häufen wir Fettdepots an. Diese Depots verhalten sich nicht einfach wie eine inerte Vorratskammer. Je größer diese Depots werden, desto stärker entwickeln sie eine entzündliche Komponente: Es kommt zur Einwanderung und Aktivierung von Makrophagen, die ihren Cocktail aus IL‑1β, IL‑6 und TNFα freisetzen. Wir werden sehen, dass sich das negativ auf die Insulinsensitivität auswirkt.

Die Akkumulation von Fett beginnt, toxische Effekte zu haben. Erinnern wir uns: Toxizität ist eine Frage der Dosis. Vieles deutet darauf hin, dass der bei Adipositas beobachtete moderate Anstieg der Konzentration freier Fettsäuren sich auf zwei Ebenen negativ auf den Metabolismus auswirkt: einerseits auf die Insulin-sensitiven Gewebe, andererseits auf die Insulin-produzierenden β-Zellen selbst.

Insulinresistenz in Zielorganen: Leber, Fettgewebe, Muskel

Freie Fettsäuren, die nicht zur Energiegewinnung "verbrannt" werden, akkumulieren im Zytosol von Leber, Muskel- und Fettgewebe und werden wieder zu Triglyceriden zusammengesetzt. Dabei steigt auch die Konzentration des Zwischenprodukts Diacylglycerol an, das sich in die Zellmembran einpflanzt. Erinnern wir uns, dass Diacylglycerol auch als second messenger wirkt, indem es Proteinkinase C (PKC) an die Membran holt und aktiviert. PKCε phosphoryliert den Insulinrezeptor auf Threonin 1160 und hemmt damit die Tyrosinkinasefunktion des Rezeptors, sodass die Signalweiterleitung nicht mehr so gut funktioniert. In einem weiteren Mechanismus phosphorylieren aktivierte PKC und andere Serin/Threoninkinasen IRS‑1 (insulin receptor substrate‑1) an hemmenden Stellen und reduzieren dadurch dessen Fähigkeit, das Insulinsignal in die Muskelzelle zu leiten (nicht verwechseln: im Gegensatz dazu phosphoryliert der aktivierte Insulinrezeptor IRS‑1 auf Tyrosinen, was zur Signalweiterleitung notwendig ist). Bei Gesunden erhöhen Muskel- und Fettzellen auf Insulin die Zahl der GLUT4-Proteine (glucose transporter 4, KM 5mM)  in der Plasmamembran. Ist die Insulin-Signaltransduktion allerdings durch das Übermaß an Fettsäuren gehemmt, können diese voluminösen Gewebe weniger Glucose aufnehmen; dadurch steigt der Blutzuckerspiegel. Natürlich konsumieren alle unsere Zellen dauernd Glucose. Sie nehmen die Glucose jedoch über GLUT1 und GLUT3 auf, die mit ihrer KM von 1mM bereits bei normalen Blutzuckerspiegeln (80 mg/dl= 4,5mM) ihre maximale Transportkapazität erreichen. Leberzellen und β‑Zellen im Pankreas nehmen Glucose über GLUT2 auf (KM 15-20 mM). Die höhere KM bedeutet, dass bei höheren Plasmaglucosewerten mehr Glucose in diese Zellen transportiert wird. In der Leber wird überschüssige Glucose zu Fettsäuren metabolisiert, sodass das Grundproblem noch verstärkt wird. Rufen wir uns in Erinnerung, dass GLUT1, GLUT3 und GLUT2 nicht durch Insulin reguliert werden.

Unabhängig davon sind gesättigte Fettsäuren wie Laurinsäure (C12) oder Palmitinsäure (C16) in der Lage, TLR4 (den LPS-Rezeptor) und TLR2 partiell zu aktivieren. Über diesen Mechanismus führen erhöhte Spiegel freier Fettsäuren zu einer Aktivierung pro-inflammatorischer Signale und zu weiter reduzierter Insulinsensitivität von Leber, Muskel- und Fettgewebe. So induzieren aus Fettgewebe freigesetztes IL‑6 und TNFα in Hepatozyten SOCS (suppressor of cytokine signaling)-Proteine, die phosphorylierte Tyrosine auf IRS‑1 maskieren, so die Signalweiterleitung behindern und zum Abbau von IRS‑1 im Proteasom führen.

Regelmäßige aerobe körperliche Betätigung verstärkt die Expression der für die Fettsäureverbrennung notwendigen Enzyme und vergrößert die Masse an Mitochondrien, in denen dieser Prozess abläuft. Auf diese Art führt regelmäßiges Training zu einem effizienteren Abbau von Fettsäuren und damit zu einer Anhebung der Insulinsensitivität.

Insulinresistenz: β-Zellen im Pankreas

Sobald die peripheren Gewebe weniger sensitiv auf Insulin sind, ist die Glucosekonzentration im Plasma notwendigerweise tendenziell erhöht. Glucose wird über den Transporter GLUT2 (KM 15-20 mM) proportional zu seinem Blutplasmaspiegel in die β-Zelle aufgenommen und stimuliert dort die Produktion von ATP. ATP bindet an einen ATP-sensitiven K+-Kanal: je höher die ATP-Konzentration, desto mehr wird der K+-Kanal, der an der Aufrechterhaltung des Membranpotentials mitwirkt, geschlossen. Das bingt das Membranpotential an die Auslöseschwelle für spannungsabhängige Ca2+-Kanäle. Einstrom von Ca2+ führt dann zur Exozytose von –Insulin-gefüllten Vesikeln.

Pharmakologische Querverstrebung: Der ATP-sensitive K+-Kanal (Untereinheit ABCC8 oder SUR1, sulfonyl urea receptor 1) ist der Angriffspunkt für Sulfonylharnstoffe. Bindung von Sulfonylharnstoffen fördert das Schließen des Kanals und verstärkt damit die Insulinausschüttung.

Höhere Blutzuckerwerte (die Plasmaglucosekonzentration bewegt sich bei Gesunden zwischen 4 und 8 mM, oder zwischen 72 und 144 mg/dl) führen also zu verstärkter Insulinsynthese und -Freisetzung. Beta-Zellen haben eine enorme Insulinsynthesekapazität: Proinsulin kann bis zu 50% des gesamten im Pankreas produzierten Proteins ausmachen. Unter Dauerstimulation führt die Überproduktion an Insulin mit der Zeit jedoch zu einer Stresssituation im endoplasmatischen Retikulum: ungefaltetes und fehlgefaltetes Protein akkumuliert. Das betrifft nicht nur Insulin, sondern auch ein Proteinhormon namens IAPP (islet amyloid polypeptide) oder Amylin, das gleichsinnig wie Insulin reguliert und gemeinsam mit Insulin exprimiert und sezerniert wird. Im Prinzip verfügen Zellen über standard operating procedures, um mit einer solchen Situation fertigzuwerden: die unfolded protein response (UPR), die aus mehreren Stufen besteht. Zuerst wird die Proteinsynthese generell heruntergefahren. Das reduziert im konkreten Fall die Insulinproduktion. Zweitens wird jedoch die Synthese von Chaperonproteinen gezielt verstärkt, um die korrekte Faltung neu synthetisierten Proteins zu verbessern. Drittens werden fehlgefaltete Proteine aus dem ER ins Zytosol exportiert und im Proteasom abgebaut. Wenn all das nichts nützt, wird schließlich der programmierte Zelltod eingeleitet. Dazu kommt in diesem speziellen Fall noch, dass Konglomerate von fehlgefaltetem IAPP eine Tendenz zu prionenartiger Vermehrung zeigen und besonders toxisch wirken. Auf die Dauer reduziert dieser Prozess die β-Zellkapazität im Pankreas und führt von Insulinresistenz zu manifestem Diabetes mellitus Typ 2.

Auch im Pankreas tragen zusätzliche Mechanismen zu dieser Entwicklung bei. Freie Fettsäuren (FFA, free fatty acids oder NEFA, non-esterified fatty acids) induzieren in Pankreas-Inseln IL‑1β, IL‑6 und IL‑8. Die IL‑1β-Expression schaukelt sich in einer positiven Rückkoppelung auf und behindert die Insulinsekretion. Blockade dieser Rückkoppelungsschleife mit dem IL‑1-Rezeptorantagonisten Anakinra verbesserte die β‑Zellfunktion und hatte niedrigere HbA1c-Spiegel zur Folge.

Ohne es in allen Kausalitätsketten gänzlich zu verstehen, nennen wir die Gesamtheit dieser Veränderungen Metabolisches Syndrom. Insulinresistenz führt via Diabetes mellitus Typ 2 zu einem breiten Fächer an Morbidität, wie Arteriosklerose, Herzinfarkt, Schlaganfall, diabetische Nephro- und Retinopathie sowie Polyneuropathie.

Dieses Problem trifft uns nicht alle im gleichen Ausmaß. In der genetischen Lotterie haben manche mehr, manche weniger Energiespar-Allele gezogen. So berichtete eine Studie, dass ein Individuum mit Energiesparallelen auf 104 von 194 untersuchten polymorphen Loci im Durchschnitt 11 kg schwerer war als jemand mit nur 78 thrifty genes.

 

Was ist ein thrifty gene? Ein Beispiel: FTO-Gen und braunes Fettgewebe

Das Leben ist nicht gerecht: manche Menschen können eine Menge essen, ohne zuzunehmen, die meisten können das nicht. Manche Menschen haben nie zu kalt: entspannt sitzen sie kurzärmlig herum, während andere frierend den Reißverschluss ihrer Jacke noch etwas höher zu ziehen versuchen. Könnte es sein, dass manche Menschen einfach mehr Nahrung "verheizen"?

Bis vor wenigen Jahren nahm man an, dass braunes Fettgewebe nur bei Babys vorkommt. Fett ist gewöhnlich weiß; enthalten spezialisierte Ansammlungen von Fettzellen allerdings einen hohen Anteil an Mitochondrien, erscheinen diese beige oder braun. In den Mitochondrien verbrennen diese Zellen Fett oder Glucose, um Wärme zu erzeugen. Normalerweise benützen Mitochondrien die Energie eines Protonengradienten, um ATP zu synthetisieren, wie in einer Mühle die Energie eines Baches verwendet wurde, um Korn zu mahlen. Würde der Müller das Räderwerk vom eigentlichen Mühlstein entkoppeln, produzieren die nun schneller ratternden Zahnräder nur mehr Wärme, keine Arbeit. In ähnlicher Weise wird der Fluss von Protonen vom Antrieb der ATP-Synthase entkoppelt durch die Expression von uncoupling protein 1 (UCP1 oder Thermogenin), indem dieses den Protonen ermöglicht, durch die innere Mitochondrienmembran zurückzurieseln. Beige oder braune Fettzellen sind so in der Lage, ihre Fettverbrennung von der ATP-Produktion abzukoppeln und stattdessen zur Erzeugung von Wärme einzusetzen. Dieser Prozess wird durch ein Zusammenspiel von sympathischer Aktivierung und Schilddrüsenhormon gesteuert. Aktivierung β3-adrenerger Rezeptoren induziert das Enzym Iodothyronin-Deiodinase Typ II, ein Selenoprotein, das Thyroxin (T4) zum aktiven Trijodthyronin (T3) umwandelt. T3 aktiviert den bereits auf dem Promotor des UCP1-Gens sitzenden Schilddrüsenhormonrezeptor.

Dann erkannte man mit Hilfe der 18F-Fluordesoxyglucose-PET-CT-Technik, dass beiges oder braunes Fett auch bei Erwachsenen vorkommt, in kleinen Ansammlungen im vorderen Hals und im Thorax. Anfangs fand man es nur bei wenigen, sehr schlanken, Menschen und bei manchen Probanden, die man der Kälte ausgesetzt hatte. Mit der Zeit wurde klar, dass Kurzzeit-Kälteexposition die Aktivität braunen Fettgewebes steigert, Langzeit-Kälteexposition (Wochen) auch das Volumen. Bei ausreichend rauer Kälteexposition kann braunes Fettgewebe in praktisch jeder Person nachgewiesen werden. Doch schlanke Menschen haben im Allgemeinen mehr braunes Fettgewebe.

Unabhängig davon schritt die Suche nach Übergewicht-fördernden Genvarianten mit Hilfe von genome-wide association studies voran. In den langen Listen so identifizierter Gene stand wiederholt ein Gen unklarer Funktion an der Spitze, das wir nun fat mass and obesity associated (FTO) nennen. Unklar blieb auch, über welchen Mechanismus bestimmte Allele dieses Gens zur Fettleibigkeit beitragen. Dann wurde erkannt, dass das kodierte Protein DNA-Service-Funktion hat, indem es Methylierungen von Thymidin rückgängig macht. Trotzdem brachte das die Suche nach der Verbindung des Gens mit dem Phänotyp "Übergewicht" nicht wirklich weiter.

Im Jahr 2015 wurde schließlich ein unerwartetes Modell präsentiert: Das FTO-Gen trägt nicht durch sein kodiertes Protein zur Entstehung von Übergewicht bei, sondern durch eine Bindungsstelle in Intron1 für einen Transkriptionshemmer, der auf Gene weiter unten am Chromosom wirkt. An einer bestimmten Stelle auf Chromosom 16, zwischen den FTO-Exons 1 und 2, hat ein SNP (single nucleotide polymorphism rs1421085) zur Folge, dass manche von uns ein C (nennen wir es "Cnauser-C"), andere ein T ("Thermo-T") tragen. Jede(r) von uns hat natürlich zwei Allele, sodass unser Genotyp CC, CT oder TT sein kann. Der Einfachheit halber sehen wir uns nur die CC und TT-Genotypen näher an (CT könnte irgendwo dazwischen liegen).

1.    Sie sind ein Thermo-TT-Typ? Da haben Sie Glück, denn Sie tun sich leichter, Fett zu verbrennen. Dafür ist ein komplexer Mechanismus verantwortlich. Thermo-T ist Teil einer Bindungsstelle für den Transkriptionshemmer ARID5B. ARID5B hemmt die Transkription zweier Gene, die ein Stück weiter auf Chromosom 16 liegen, IRX3 und IRX5, die selbst wieder Transkriptionshemmer kodieren. In der Differenzierung neuer Fettzellen fungieren IRX3 und IRX5 als Schalter zwischen braun und weiß, als "Braun-Ausschalter". Thermo-T hemmt diese Hemmer, sodass größere Mengen braunen Fettgewebes entstehen. Sind Sie Thermo-TT, verheizen Sie mehr Fett für Wärme. Vielleicht sind Sie sogar der Typ, der kurzärmlig in der Kälte sitzt! AAABER hätten Sie in der Altsteinzeit gelebt, wären Sie weniger gut dran gewesen: da Sie dauernd mehr Kalorien verheizen, wären Sie in einer Hungerperiode vielleicht unter den ersten gewesen, die den Löffel abgeben.

2.    Sie sind ein Cnauser-CC-Typ? Dann sind Sie ausgezeichnet ausgestattet für altsteinzeitliche Lebensumstände. Cnauser-C verhindert jegliches Andocken des Transkriptionshemmers ARID5B. IRX3 und IRX5 werden ungehindert stark exprimiert und unterdrücken in neu entstehende Fettzellen das Bräunungsprogramm. Fast ausschließlich weißes Speicherfettgewebe wird gebildet, sodass Sie in guten Zeiten reichlich Polster aufbauen können. Bessere Aussichten, die nächste Hungersnot zu überleben!

So, nun verstehen wir ein thrifty gene. Doch es gibt mehr als vierhundert davon, und jedes trägt nur einen kleinen Teil zur beobachteten Gesamtvarianz im Body-Mass-Index bei. Abhängig vom Satz an Allelen, den wir in der großen genetischen Lotterie von unseren Eltern erhalten haben, sind wir im Umgang mit Nahrungsmittelenergie eher knausrig oder eher hemdsärmelig, und wir können bisher nichts daran ändern. Die beneidenswerten Zeitgenossen mit weniger Energiesparallelen bleiben unter unseren Ernährungsbedingungen ohne besondere Anstrengungen schlank; die Mehrheit muss sich bewusst bemühen, um das Gewicht zu halten.

Ein anderer übergewichtsfördernder Aspekt des paläolithischen Programms: Zucker- und fettreiche Nahrungsstoffe (mmmh, Schokolade!) lösen im ZNS ähnliche Belohnungsmuster aus wie Kokain und andere Drogen. Bei der damaligen minimalen Verfügbarkeit hochkalorischer Nahrung war diese verhaltenssteuernde Wirkung hilfreich; heute ist sie ein Problem. Nahrungsmittelhersteller und -händler, die damit Gewinn machen, nützen diese Schwäche mit verführerischer Werbung nach Kräften aus.

Der Beitrag unserer Mikrobiota

Ein zweiter Aspekt, in dem sich Individuen unterscheiden, ist ihre Ausstattung mit Darmbakterien, in ihrer Gesamtheit früher Darmflora, heute meist Mikrobiota genannt (ursprünglich ein Pluralwort, doch schließe ich mich dem allgemeinen Gebrauch als Einzahlwort an). Die Mikrobiota Übergewichtiger ist klar anders zusammengesetzt als jene schlanker Menschen. Weniger klar ist, was Ursache und was Wirkung darstellt. Der menschliche Darm wird durch eine komplexe Gemeinschaft von Bakterien und Archaea bewohnt, die sich aus insgesamt mehr als 1000 Spezies rekrutieren kann. Jede(r) von uns beherbergt mehr als 1013 solcher Zellen aus mindestens 160 Spezies. Ungefähr 60 Spezies finden sich in mehr als 90% aller Europäer. Mehrfach wurde beschrieben, dass das quantitative Verhältnis zweier Phyla, der Firmicutes (z. B. Clostridium, Lactobacillus) und der Bacteroidetes (z. B. Bacteroides, Xylanibacter), mit der Ausbildung von Übergewicht korreliert: Firmicutes dominieren in übergewichtigen, Bacteroidetes in schlanken Individuen. Mehrere Faktoren beeinflussen die Zusammensetzung der Mikrobiota. Den wichtigsten Faktor stellen die Ernährungsgewohnheiten eines Menschen dar.

Die Hypothesen auf diesem Gebiet basieren auf Experimenten mit unter Laborbedingungen keimfrei aufgezogenen Mäusen. Diese keimfreien Mäuse können mit definierten mikrobiellen Spezies oder mit "Stuhltransplantaten" von Mäusen oder Menschen kolonisiert werden, um mögliche physiologische oder pathologische Auswirkungen zu überprüfen. Keimfrei aufgezogene Mäuse sind vor Übergewicht und Metabolischem Syndrom geschützt. Werden sie mit konventioneller Mikrobiota kolonisiert, steigt ihr Körperfettanteil jedoch merklich an. Keimfreie Mäuse, die mit Mikrobiota von adipösen Mäusen oder Menschen kolonisiert werden, die häufig z. B. das Archaeon Methanobrevibacter smithii enthalten, nehmen stärker zu als Mäuse, die Mikrobiota von schlanken Individuen erhalten. Wie ist das möglich? Die Mikrobiota kann auf drei Arten den Metabolismus beeinflussen:

1.      durch verstärkte Ausbeutung der in der Nahrung enthaltenen Energie. Im Prinzip sind wir mit diesem Konzept bereits vertraut: denken wir an wiederkäuende Rinder. Die Kuh selbst kann Gras eigentlich ebensowenig verdauen wie wir, doch erhält sie Hilfe durch Bakterien in ihrem dafür spezialisierten Verdauungstrakt. Unverdauliche Kohlenhydratbestandteile des Grases, wie Zellulose und Xylan, werden in ihren abgeteilten Mägen fermentiert, sodass ein großer Teil der darin enthaltenen Energie für die Kuh verfügbar wird. Bei Mäusen oder Menschen ist dieser Prozess weit weniger effizient, da die meisten Bakterien im Kolon sitzen und damit hinter dem Dünndarm, wo die meisten Energieträger absorbiert werden. Abhängig von der individuellen Mikrobiota können jedoch auch im Kolon durch Fermentation unverdaulicher Kohlenhydrate kurzkettige Fettsäuren (Azetat, Propionat, Butyrat) gebildet werden, die dort noch als Energieträger aufgenommen werden können. So kann, abhängig von der Mikrobiota, mehr oder weniger Energie aus der Nahrung extrahiert werden.

2.      durch direktes Drehen an physiologischen Stellschrauben des Gastorganismus. Neben ihrer Funktion als Energieträger aktivieren bestimmte kurzkettige Fettsäuren die G-Protein-gekoppelten Rezeptoren Gpr41 und Gpr43. Aktivierung von Gpr41 führt zu Veränderungen in der Sekretion von PYY (weiter unten beschrieben), Aktivierung von Gpr43 zu Veränderung in der Sekretion von glucagon-like peptide durch L-Zellen im Darmepithel. Ein zweites Beispiel: Darmepithelzellen von keimfreien Mäusen produzieren beträchtliche Mengen von fasting-induced adipose factor (Fiaf oder ANGPTL4). Fiaf, ein Glycoprotein, hemmt die Lipoproteinlipase (LPL), welche die Aufnahme von Fettsäuren aus Chylomikronen und VLDL in Adipozyten vermittelt. Kolonisierung keimfreier Mäuse mit konventioneller Mikrobiota unterdrückt die Fiaf-Produktion in Darmepithelzellen; die Mäuse werden fetter. Werden keimfreie Mäuse jedoch spezifisch mit Lactobacillus paracasei kolonisiert, bleibt der Fiaf-Spiegel höher.

3.      durch proinflammatorische Wirkung auf den Gastorganismus. Das Zusammenspiel von individuellen Ernährungs-, Mikrobiota- und genetisch bedingten Wirtsfaktoren kann die Durchlässigkeit des Darmepithels steigern. In dieser Situation der erhöhten Permeabilität können Spuren von Lipopolysacchariden und DNA der Mikrobiota über die Pfortader die Leber erreichen und dort Toll-like receptors 4 und 9 aktivieren. Dieser pro-inflammatorische Effekt kann die Akkumulation von visceralem Fett und die Entwicklung von nichtalkoholischer Fettleber und Insulinresistenz fördern.

Inwieweit Mäusebefunde auch auf die Situation des Menschen zutreffen, muss weiter geklärt werden. Lange bekannte Effekte, wie die positive Wirkung von ballaststoffreicher Ernährung, beginnen, über die Microbiota verständlich zu werden. So förderte eine definierte faserreiche Ernährung bei Diabetes mellitus Typ 2-Patienten die Ausbreitung von Mikrobiota-Spezies, die zu einer verstärkten glucagon-like peptide-Produktion und zu einer Verminderung des HbA1c-Werts führten. Wenn wir versuchen, unsere Tendenz zur Entwicklung von Übergewicht zu verstehen, müssen wir in unsere Überlegungen jedenfalls nicht nur unsere genetische Ausstattung, sondern auch unsere Mikrobiota und die Mikrobiota-steuernden Eigenschaften unserer Ernährung einbeziehen.

Obwohl die Zeit für evolutionäre Veränderungen seit dem Auszug aus Afrika knapp war, hat sich der veränderte Selektionsdruck doch hier und da ausgewirkt. Es gibt Hinweise darauf, dass Gesellschaften, in denen die bis dahin vorherrschende Lebensmittelknappheit erstmals in ihr Gegenteil umschlug, massive Morbiditätskrisen durchmachten. Solche Phasen gab es in Europa z. B. während der Römerzeit, als gut organisierte Landwirtschaft und Transportsysteme die durchschnittliche Versorgungssituation massiv verbesserten. Wahrscheinlich starben damals viele Menschen jung an Diabetes mellitus und damit zusammenhängenden Gesundheitsproblemen. In diesen Gesellschaften begann damals erstmals eine Selektion gegen die thrifty genes. In Populationen, die dem kalorischen Überfluss heute erstmals ausgesetzt sind, finden wir zurzeit die stärksten Probleme bezüglich Übergewicht und Diabetes mellitus Typ 2.

Das Rezept für Gewichtsabnahme ist einfach: nimm weniger Kalorien zu dir als du verbrauchst. Allerdings sind wir darauf konstruiert, den Zustand einer negativen Energiebilanz mit allen Mitteln zu vermeiden. Rasch werden Energiesparprogramme hochgefahren, die uns passiv und grantig (hochdeutsch: griesgrämig) machen, frieren lassen, unsere Gedanken ständig ums Essen kreisen lassen und uns bereit machen, uns selbst hemmungslos zu belügen. Darum gelingt es nur wenigen, lediglich durch Zurückhaltung beim Essen abzunehmen. Dauerhafte Gewichtsabnahme gelingt in der Regel nur durch weitreichende Umstellung der Alltagsgewohnheiten in Bezug auf Ernährung, sozialen/Trinkgewohnheiten und Bewegung. Regelmäßiges Ausdauertraining wirkt dem Energiesparmodus entgegen.

Gewichtsabnahme steht weit oben auf der Prioritätenliste unserer Gesellschaft, wenn auch mehr aus ästhetischen als aus Gesundheitsgründen. Leider wird den Leuten viel zu häufig mit schlechtem Rat und fragwürdigen Produkten Geld aus der Tasche gezogen. Im Folgenden daher eine (gratis!) evidenzbasierte Liste von Empfehlungen, die dabei helfen können, dauerhaft abzunehmen. Viele dieser Aspekte werden später noch näher erklärt.

Tipps zum Abnehmen und Gewicht halten

Vor allem: das Körpergewicht ist ein Resultat der Energiebilanz. Abnehmen bedeutet, weniger Kalorien zuzuführen als zu verbrauchen. Keine Diät, kein Trick führt an diesem Grundsatz vorbei.

Die Energiezufuhr-Seite:

1.      Am Anfang steht der Entschluss, über eine lange Zeit etwas weniger zu essen, als man braucht. Intensive Kurzzeit-Diäten sind nicht nachhaltig: man quält sich einige Wochen, sehnt den Tag herbei, an dem es endlich vorbei ist und legt damit schon den Grundstein für den Jo-Jo-Effekt.

2.      Ein Langzeit-Marschplan mit realistischen Zielen hilft, diese zu erreichen: 0,5 kg pro Monat sind machbar und vernünftig.

3.      Eine tägliche Hungerphase ist gut! Solange man nach einer Mahlzeit Kalorien aufnimmt, dominiert Insulin, das die Umwandlung eines Teils dieser Kalorien in Fett steuert. Sobald sich dieser Prozess umkehrt, dominieren Sympathikusaktivierung und Glucagon; man wird wieder hungrig. Hunger ist das Signal an den Altsteinzeitmenschen, wieder auf Nahrungssuche zu gehen: erst die Bewegung, dann die nächste Mahlzeit. Solange man hungrig ist, verbrennt man Fett. Die häufigen "Abnehmen, ohne zu hungern!"-Slogans kommen von Leuten, die daran verdienen wollen.

4.      Frühstückskalorien werden eher verbraucht, Abendessenskalorien eher gespeichert: Tageskalorien daher zugunsten des Frühstücks verteilen! Es ist nicht notwendig, eine Mahlzeit auszulassen; will man das trotzdem tun, verzichtet man am besten auf das Abendessen. Um zu verhindern, dass Insulin – das die Lipolyse hemmt – dauernd aktiv ist, sollte man zwischen den Mahlzeiten nicht naschen und über Nacht nichts essen (z.B. 8/16-Intervallfasten).

5.      Als Getränke empfehlen sich Wasser und Tee. Auf Säfte sollte man verzichten, den Alkoholkonsum zurückschrauben. Viele Kalorien nehmen wir in flüssiger Form zu uns. Erfrischungsgetränke enthalten große Mengen Zucker: Fructose, Glucose, Saccharose. Alkohol (7 kcal/g) verstoffwechseln wir zu Acetyl-CoA und Reduktionsäquivalenten, also zu den Ausgangsprodukten der Fettsäuresynthese. Immer, wenn wir Alkohol trinken, synthetisieren wir Fett, statt es zu verbrennen.

6.      Selbst kochen! Dann weiß man, was man isst.

7.      Kleinere Portionen servieren, kleinere Teller verwenden wegen des Portionsgrößeneffekts.

8.      Primäre Lebensmittel helfen bei der Kalorienreduktion: Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Salate, mageres Fleisch, Fisch. Industriell verarbeitete Lebensmittel haben in der Regel eine höhere Energiedichte, d. h., sie enthalten zu viel Fett und Zucker. Außerdem enthalten sie häufig zu viel Salz, Trans-Fette und andere Stoffe zweifelhafter Nützlichkeit.

9.      Eiweißreiche Mahlzeiten machen es leichter, die Gesamtkalorienzufuhr zu vermindern. Verglichen mit isokalorischen Alternativen zögert eine eiweißreiche Mahlzeit über Ausschüttung von PYY die Rückkehr des Hungergefühls hinaus. Zu den proteinreichen Nahrungsmitteln gehören Eier, Fisch und mageres Fleisch; Vegetarier können auf Hülsenfrüchte, speziell Sojabohnen/Tofu, Kerne (Kürbis, Sonnenblume) und Nüsse zurückgreifen.

10.  Mahlzeiten mit niedrigem glykämischen Index unterstützen Abnehmbemühungen. Dieser Punkt überlappt mit den vorigen beiden, denn primäre und proteinreiche Lebensmittel tendieren zu einem niedrigeren glykämischen Index. Konkret bedeutet das Zurückhaltung bei zuckerhaltigen Lebensmitteln wie Süßigkeiten, Schokolade, Konditoreiwaren. Den glykämischen Index des Frühstücks kann man herabsetzen, indem man Weißbrot und industrielle Frühstücksflocken durch Vollkornmüsli mit Obst ersetzt.

Die Energieverbrauchs-Seite:

11.  Mehr tägliche Routinebewegung erhöht den Energieverbrauch: zur Arbeit gehen oder Rad fahren statt mit Bus oder Auto; die Stiege benützen statt den Lift. Auch ein Schrittzähler kann motivierend wirken.

12.  Bewegung verbraucht nicht nur unmittelbar Energie, sie erhöht den Grundumsatz auch für viele Stunden danach. Empfohlen sind 150 min pro Woche, intensive Minuten zählen doppelt und haben einen stärkeren Nachbrenneffekt. Die Form ist sekundär: flott gehen, joggen, Rad fahren, schwimmen, langlaufen, tanzen…

13.  Hält man Innentemperatur und Kleidung eher kühl, verheizt der Körper selbst mehr Energie durch adaptive Thermogenese in Muskel und braunem Fettgewebe.

 

Um Gewicht abzubauen, ist (zu) wenig zu essen wichtiger als viel Bewegung: You can't outrun a bad diet. Sorgfältige Untersuchungen des Energiehaushalts (mittels der Gold-Standard doubly labeled water-Methode) der als Jäger und Sammler lebenden Hadza-Population in Tanzania brachten eine unerwartete Erkenntnis: Diese Menschen, die sich täglich für die Nahrungssuche sehr viel bewegen, verbrauchen pro Tag nur unwesentlich mehr Kalorien als wir Schreibtischmenschen. Werden viele Kalorien für Bewegung benötigt, findet der Körper offensichtlich anderswo Einsparungsmöglichkeiten. Wir kennen das von den positiven Gesundheitseffekten von Sport: wenn wir regelmäßig trainieren, sinkt unsere mittlere Herzfrequenz, sinkt unser mittlerer Blutdruck; das spart Energie.

Unsere intuitive Vorstellung von Gewichtsabnahme sieht etwa so aus: Wir essen eine Weile weniger, bis wir unser Zielgewicht erreicht haben, und dann essen wir wieder "normal", das heißt, ähnlich viel wie vorher. Diese Vorstellung ist leider aus zwei Gründen falsch:

1.      Der Energieverbrauch (Kalorienbedarf) unseres Körpers ist eine Funktion seiner Masse. Wer das nicht glaubt, schleppe einmal für einige Tage einen 10 kg-Rucksack herum. Wenn wir also erfolgreich abnehmen, hat unser Körper am Zielgewicht einen geringeren Kalorienbedarf als vorher. Beispiel: Eine 22-Jährige, 165 cm, empfindet ihre 70 kg (BMI 25,7) als zu viel und nimmt mit viel Mühe und Rückschlägen, aber letztlich erfolgreich, 10 kg ab. Ihr 60 kg-Körper (BMI 22) hat, nach Standardformeln berechnet, einen Kalorienbedarf von 2170 kcal pro Tag, während ihr 70 kg-Körper 2340 kcal zu sich nehmen konnte, ohne weiter zuzunehmen. Sie muss also zumindest um die Differenz von 170 kcal weniger essen als vorher, um nicht wieder zuzunehmen.

2.      Die tatsächliche Differenz ist allerdings noch höher: Unser Organismus "merkt" sich das höhere Ausgangsgewicht und setzt alles daran, dieses wieder zu erreichen. Ein einmal für längere Zeit erreichtes Gewichtsmaximum wird als neuer Sollwert gespeichert, der vom Organismus mit Zähnen und (Ver-) Dauen verteidigt wird. Bei Personen, die mehr als 10 % ihres Körpergewichts abgenommen hatten und dieses Gewicht einigermaßen halten konnten, fand man, dass ihr Organismus das neue Gewicht ein volles Jahr später immer noch als Defizitzustand interpretierte: Schilddrüsenhormon sowie die Sattheitshormone Leptin und PYY waren erniedrigt, das Hungerhormon Ghrelin erhöht und die Testpersonen gaben verstärktes subjektives Hungergefühl an. Sorgfältige Messungen ergaben, dass der Gesamtenergieverbrauch solcher Personen geringer ist, als der von gleich schweren Vergleichspersonen, die nicht abgenommen haben. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass ihre Muskeln im Alltagsleben energieeffizienter arbeiten, da diese sich tendenziell in Richtung sparsame Typ I-Fasern (slow-twitch, myosin heavy chain I) und weg von glykolytischen Typ II-Fasern (fast twitch, myosin heavy chain IIa und IIx) entwickeln.

Auf das Beispiel der jungen Frau umgelegt: hätte sie nie ein höheres Gewicht gehabt, würde ihr 60 kg-Körper die berechneten 2170 kcal pro Tag verbrauchen. Ihr "post-70 kg" 60 kg-Körper befindet sich ein Jahr später allerdings immer noch im Energiesparmodus und verbraucht weniger. Diese zusätzliche Reduktion wurde bisher nur in wenigen Probanden quantifiziert und variierte stark, sodass es nicht möglich ist, in unserem Beispiel eine exakte Zahl anzugeben, doch liegt sie vermutlich zwischen 100 und 400 kcal.
Für wie lange? Das wissen wir leider noch nicht. Bei den wenigen sorgfältig überprüften Personen war dieser Energiesparmodus aber auch nach sechs Jahren noch aktiv. Es ist schwierig, geeignete Proband*innen für solche Untersuchungen zu finden, da es zwar vielen Menschen gelingt, temporär abzunehmen, aber nur sehr wenigen, das reduzierte Gewicht länger zu halten. Diejenigen, denen das gelingt, sind meist sportlich sehr aktiv, sodass die Bewegung dem Energiesparmodus bis zu einem gewissen Grad entgegenwirkt.

Der neue Gleichgewichts-Energieverbrauch der jungen Frau liegt damit irgendwo zwischen 1770 und 2070 kcal pro Tag. Mit anderen Worten: Will sie ihr Gewicht halten, muss sie bei verstärktem Hungergefühl jeden Tag um 270-570 kcal oder etwa eine halbe Mahlzeit weniger essen, als ihrem Gefühl von "normal" entspricht. Darum also ist es so schwierig, nach einer Gewichtsabnahme das Zielgewicht zu halten. Eine wesentliche Schlussfolgerung: Prävention von Übergewicht ist um vieles leichter als nachträgliche Korrektur. Prävention von Übergewicht, sowie von Rauchen, sind unspektakulär und unbedankt (das "Präventionsparadox"), gehören aber zu den wirksamsten ärztlichen Aufgaben.

"Entschlackung"?

Als "Schlacke" bezeichnet man Gesteinsumformungen, die bei der Verhüttung von Erzen bei der Metallgewinnung übrigbleiben. In unserem Organismus gibt es nichts Analoges. Wenn uns eine Entschlackung angepriesen wird, bedeutet das in der Regel, dass wir eine Dienstleisung oder ein Produkt kaufen sollen, meist in Verbindung mit Fasten. Fasten selbst ist im Übrigen nicht teuer und kann in moderater Form, z.B. als Intervallfasten, durchaus sinnvoll sein.

Beim Fasten werden die dauernd benötigten Zucker, Fette und Aminosäuren nicht mehr über den Darm aufgenommen. Über die notwendige Umstellung der Energiebereitstellung machen wir uns weiter unten – Abschnitt Leber – Gedanken. Doch wie werden unsere Zellen mit dem Mangel an Aminosäuren fertig? Zelluläre Proteine haben unterschiedliche Halbwertszeiten, und viele von ihnen müssen wir dauernd nachsynthetisieren, um die Zellen funktionsfähig zu erhalten.

Unsere erste ernste Fastenzeit haben wir alle bereits hinter uns: jene als Neugeborene. Mit dem Durchtrennen der Nabelschnur ging uns nicht nur der Sauerstoff aus, was uns zu schmerzhaften ersten Atemzügen zwang. Vorbei war es auch mit der anstrengungslosen Anlieferung von Nährstoffen. Leider dauerte es einige Tage, bis bei unserer Mama die Muttermilch einschoss. Für uns hieß das: darben und schrumpfen! Wie kamen wir über die Runden? Das Geheimnis heißt Autophagie. Um weiter Proteine synthetisieren zu können, schmolzen unsere Zellen große Schlucke von zytosolischer Proteinsuppe ein und verdauten diese zu Aminosäuren. Technisch funktioniert das so, dass Doppelmembranballons um Schlucke von Zytosol gebildet werden, die dann mit Lysosomen fusionieren, sodass die Proteine zu Aminosäuren recycelt werdern. Es war eine Notmaßnahme, aber es hielt unsere Zellen am Leben und damit unseren Organismus. Erst nach ein oder zwei Wochen erreichten wir wieder unser Geburtsgewicht, was unsere Mütter mit Stolz vermerkten.

Auch wenn wir als Erwachsene fasten, setzen wir diese nicht-selektive Autophagie in Gang. Werden wichtige Aminosäuren in der Zelle knapp, bremst das den mTOR (mechanistic target of rapamycin)-Komplex 1. Das aktiviert die Autophagie und bremst wiederum viele Zellfunktionen. In vielen Spezies, wahrscheinlich auch beim Menschen, verlängert lebenslange Energieknappheit die Lebenszeit. Ob und wenn, inwieweit das mit dem beschriebenen Mechanismus zu tun hat, bleibt leider vorerst noch unklar.

Als Gegensatz zur nicht-selektiven existiert auch die selektive Autophagie, die dazu dient, ins Zytosol eingedrungene Bakterien oder nicht mehr gebrauchte Zellorganellen abzubauen. Dieser Prozess wird nicht durch Fasten angestoßen, sondern durch das Auftreten von partikulärem Material, das entsorgt gehört und mittels zytosolischen Rezeptoren erkannt wird. Dies wäre am ehesten mit Entschlackung vergleichbar, ist aber nicht von außen steuerbar.

Kurz: Wird Ihnen Entschlackung angepriesen, reduzieren Sie lieber privat Ihre Nahrungszufuhr. Das ist billiger.



3.  HOHE  SALZAUFNAHME

Ähnlich, wie wir für einen Kalorienmangel genetisch besser vorbereitet sind, als für einen Kalorienüberschuss, sind wir für einen Salzmangel besser vorbereitet, als für Salzüberschuss. Während wir mit dem Aldosteronsystem einen sehr effizienten Mechanismus haben, Salz zu sparen, sind unsere Mechanismen zur Salzausscheidung weniger effizient, weil sich dieses Problem in der Evolution des modernen Homo sapiens nicht stellte. Der evolutionär begründete Appetit nach Salz in Kombination mit dessen reichlicher Verfügbarkeit führt heute zu Überkonsum. Mehr Salz führt bei ineffizienter Ausscheidung aus osmotischen Gründen zu mehr Volumen, und tendenziell höheres Volumen im geschlossenen System des extrazellulären Raums bedeutet tendenziell höheren Blutdruck. Erst mit Hilfe des höheren Blutdrucks sind wir in der Lage, mehr Salz auszuscheiden, da die renale Natriumausscheidung eine Funktion der tubulären Flussrate ist (pressure natriuresis). Unsere hohe Salzaufnahme begünstigt also die Entstehung von Bluthochdruck. Die DASH-Ernährungsempfehlung (Dietary Approaches to Stop Hypertension, Link leider nur auf Englisch verfügbar, mit englischen Maßen und Gewichten) zielt auf diesen Punkt ab und stellt generell einen guten Ratgeber zur gesunden Ernährung dar.

 


4.  UNTERERNÄHRUNG

Trotz des Überflusses in einem Teil der Welt (etwa 400 Millionen leiden an Diabetes mellitus Typ 2) ist Hunger nach wie vor eines der größten medizinischen Probleme. Etwa 800 Millionen Menschen sind unterernährt. Laut Welternährungsorganisation FAO verhungert alle fünf Sekunden ein Kind.

Ein großer Teil des Hungers ist menschengemacht. Dies gilt z. B. für den Klimawandel, doch auch für die Wirtschaftsmechanismen, mit deren Hilfe wir Nahrungsmittel produzieren und verteilen.

[Zwei Beispiele:

1. Um planen zu können, haben sowohl der französische Weizenbauer als auch der österreichische Großbäcker Interesse daran, den Weizenpreis in einem halben Jahr zu fixieren. Sie könnten sich also zu einer Lieferung zu einem bestimmten Termin zu einem bestimmten Preis einigen. Einen solchen Vertrag nennen wir ein Warentermingeschäft.

Tatsächlich haben weder Bauer noch Bäcker Zeit, einen Partner zu suchen. Es benötigt also Vermittler. In der Praxis sieht der Ablauf etwa so aus: Der Landwirt zahlt dem Vermittler einen bestimmten Betrag und erwirbt damit das Recht, seinen Weizen über den Vermittler bis zu einem bestimmten Termin zu einem bestimmten Preis zu verkaufen. Wir nennen das eine Put-Option. Auch der Bäcker zahlt dem Vermittler einen gewissen Betrag und erwirbt damit das Recht, Weizen bis zu einem bestimmten Termin zu einem bestimmten Preis zu kaufen. Wir nennen das eine Call-Option. Eine Option ist also ein Geschäft, bei dem ein Recht verkauft wird. Jener, der zahlt, erwirbt das Recht, jener, der Geld bekommt, übernimmt dafür die Pflicht, die Gegenseite des zugrundeliegenden Geschäfts zu übernehmen. Der für die Option bezahlte Preis ist eine Art Versicherungsprämie, um den Weizen später zu einem bestimmten Preis verkaufen bzw. kaufen zu können. Wie der Name Option impliziert, muss das Recht nicht ausgeübt werden: ist der Marktpreis zur Zeit der Ernte höher als der im Termingeschäft vereinbarte Ausübungspreis, kann der Landwirt an den Meistbietenden verkaufen. Nicht-ausgeübte Optionen laufen wertlos aus, die Prämie bleibt dem Verkäufer der Option. Die Rechte und Pflichten könne auch weiterverkauft werden, sodass eine Börse für diese Optionen entsteht. Hedge Fonds, Banken, Versicherungen, die nicht das geringste Interesse am Weizen haben, erwerben und verkaufen solche Optionen, wenn sie sich davon Gewinn erwarten. Ein zweiter Typ des börsegehandelten Warentermingeschäfts, bei dem sich --im Gegensatz zur halbseitig verpflichtenden Option-- beide Seiten zur Durchführung des Geschäfts verpflichten, sind die sogenannten Futures.

Die meisten Teilnehmer an der Warenterminbörse sind weder Produzent noch Endabnehmer. Sie haben lediglich ein Interesse an einer möglichst großen Gewinnspanne, und werden es ausnützen, wenn unvorhergesehene Ereignisse es erlauben, diese Spanne zu vergrößern. Sperren zum Beispiel die russischen Behörden die Weizenexporte, da die Trockenheit eine schlechte Ernte erwarten lässt, erfahren die gut vernetzten Teilnehmer an der Warenterminbörse das etwas früher als der österreichische Bäcker und die anderen Abnehmer. Die relativ überschaubare Zahl an Marktteilnehmern aus der Finanzindustrie braucht sich gar nicht explizit abzusprechen, allen ist klar, welches Verhalten den Gewinn vergrößert: sie werden von diesem Augenblick an sehr zurückhaltend sein, sich zu Lieferungen zu verpflichten. Wenn ein Verbraucher trotzdem eine Lieferung fixieren will, muss er eben viel dafür zahlen. Das bedeutet, der Ausübungspreis für neue Weizentermingeschäfte steigt, und zusätzlich werden die Call-Optionen teurer. Während die Weizenverknappung aus Sicht der Nahrungsmittelversorgung ausschließlich negativ ist, ermöglicht sie manchen Teilnehmern am Warenterminmarkt große Gewinne. Der erwartete Ernteausfall in Russland hätte den Weizenmarktpreis bereits angehoben, doch der Warenterminhandel verstärkt diesen Preisanstieg nun noch zusätzlich. Der österreichische Großbäcker ist zunächst durch seine Call-Option preislich abgesichert, doch für das nächste Termingeschäft wird er schließlich zähneknirschend mehr zahlen. Wir Konsumenten ärgern uns, dass das Brot schon wieder teurer wird. Doch für die weltweit 1,2 Milliarden Menschen, die mit weniger als einem Euro pro Tag überleben müssen, ist der resultierende Preisanstieg existenzbedrohend.

Gibt es eine Lösung? Wahrscheinlich würde es helfen, den Kreis der Teilnehmer an Nahrungsmitteltermingeschäften einzuschränken. Gesetzliche Regelungen könnten direkt mit den Nahrungsmitteln befassten Marktteilnehmern, wie Produzenten, Abnehmern und, so weit als notwendig, Vermittlern, Termingeschäfte ermöglichen, vom physischen Produkt losgelöste Spekulation jedoch verhindern. Solche gesetzlichen Regelungen wurden bisher nicht einmal versucht und wären wohl nur gegen starkes Lobbying der Finanzwirtschaft durchsetzbar.

2. Ein weiterer Faktor, der Nahrungsmittel tendenziell verteuert, ist die Herstellung von Biotreibstoff. E5 ist die Bezeichnung für Benzin, das 5% Ethanol enthält, das durch Vergärung von Nahrungsmitteln wie Weizen, Mais und Zuckerrüben gewonnen wird. Zwar ist es möglich, Ethanol aus z. B. Zuckerrohr zu gewinnen, das in Sumpfgebieten wächst und weniger Flächenkonkurrenz darstellt, doch ist der weltweite Nahrungsmittelanteil an der Kraftstoffethanolerzeugung heute de facto hoch.

Hat all das überhaupt mit Medizin zu tun? Wenn Menschen unnötig daran sterben: ja!]

Als eine Folge ihrer Armut müssen viele Menschen mit einer extrem eingeschränkten Nahrungspalette auskommen, im Wesentlichen mit Mais oder Reis. Während die täglich verfügbare Menge für den rein kalorischen Bedarf noch ausreichen mag, fehlen bei einer solchen Ernährung essentielle Bestandteile, sodass Krankheiten auf die Dauer unausweichlich und der Tod nur zu oft die Folge sind.

Mit einer regelmäßigen Versorgung mit Kohlenhydraten ist unser Organismus in der Lage, Energie zu produzieren sowie andere notwendige Kohlenhydrate und viele Lipide durch Umbau herzustellen. Das Problem beginnt bei den Proteinen. Von den zwanzig Aminosäuren können Erwachsene acht nicht selbst synthetisieren –Kinder noch mehr--, sodass diese mit der Nahrung aufgenommen werden müssen. Mehrere von diesen sind in Getreide, Reis oder Mais in nicht ausreichender Menge vorhanden. Ein Protein ist eine Kette von Aminosäuren: es liegt im Wesen einer Kette, dass ein einziges fehlendes Kettenglied die gesamte Kette unbrauchbar macht. Können wir ausgehend von Getreideprotein Muskeln aufbauen? Unser mengenmäßig wichtigstes Muskelprotein, myosin heavy chain-1, enthält in 1939 Aminosäuren 208 Lysine (10,7%). Ein Hauptprotein in Weizen, α -Gliadin, enthält in 296 Aminosäuren magere 2 Lysine (0,2%). Bei einseitiger Getreideernährung, und das inkludiert Reis, werden wir also nicht viel Muskel aufbauen können. Dasselbe gilt für Mais, in dem wenig Lysin und Tryptophan enthalten sind. Die Armennahrung vieler Entwicklungsländer führt damit besonders für Kinder oft zu einer Mangelernährung.

 

Kwashiorkor

Sobald eine Aminosäure limitierend wird, kann der Organismus nicht mehr genügend Proteinmoleküle herstellen. Von außen sichtbar wird das zuerst für jene Proteine, die wir in hohen Kopienzahlen benötigen: Muskelproteine und Albumin. Albumin benötigen wir, um den kolloidosmotischen Druck zu erhalten; ein Mangel führt zu typischen Fußödemen und Aszites-bedingtem Hungerbauch. In einer auf den ersten Blick paradox erscheinenden Reaktion ist die Leber durch Fetteinlagerung vergrößert, da die Lipide durch Apoproteinmangel nicht als VLDL in die Peripherie verbracht werden können. Mangelhaft pigmentiertes, schütteres Haar und Dermatitis sind weitere typische Zeichen. Betroffene Kinder und Erwachsene sind apathisch und ein leichtes Opfer für Infektionen, da eine effektive Immunantwort auf die Produktion von Antikörpern und Zellen angewiesen wäre. Der Begriff Kwashiorkor kommt aus der Ghanaischen Ga-Sprache und bedeutet "die Krankheit, die ein Kind bekommt, wenn ein neues Kind geboren wird". Durch das Abstillen des älteren Kindes wird die ausgewogene Aminosäurezusammensetzung der Muttermilch durch die mangelhafte der pflanzlichen Ernährung ersetzt. Selbstverständlich wird die Unterernährung in diesen Situationen durch weitere, zusätzliche Faktoren verstärkt: der Armennahrung fehlt verwertbares Eisen, Vitamin B12 (siehe unten), Niacin und sie ist häufig durch Aflatoxin kontaminiert.

 


5.  ZENTRALE APPETIT-REGULATION

Der Hypothalamus ist der Haupt-Schauplatz für die Appetitregulation, und ein wesentliches Schaltzentrum ist der Nucleus arcuatus. Hier treffen Versorgungs-Informationen aus der Peripherie ein, z. T. über neurale Afferenzen, z. T. über Proteinhormone wie Leptin und Ghrelin.

 

Portionsgrößeneffekt

Je größer die Portion ist, die vor uns steht, desto mehr essen wir. Gibt man der Durchschnittsperson einen Teller mit mehr, als sie essen kann, isst sie eine gewisse Menge davon. Gibt man derselben Person einen größeren Teller mit einer noch größeren Portion, isst sie mehr als das erste Mal. Wir sind weit davon entfernt, die Mechanismen solcher zentralen Steuerungen zu verstehen, doch handelt es sich beim Portionsgrößeneffekt wahrscheinlich um einen Teil des Programms zur Anlage von Fettdepots in Zeiten des Überflusses.

Praktische Bedeutung: Abnehmen/Gewicht halten fällt leichter, wenn man kleinere Portionen/Teller auftischt. Von Badezuber-artigen Popcornbehältern wird abgeraten.

 

Leptin

Leptin (von griech. leptos=dünn) füttert das Zentrale Nervensystem mit Informationen über die vorherrschende Versorgungslage. Das ZNS reagiert darauf mit sinnvollen Modifikationen des Essverhaltens, der allgemeinen Aktivität, des Stoffwechsels inklusive des Knochenstoffwechsels, der Reproduktionsfunktionen etc. (Anorexia nervosa kombiniert z. B. niedrige Leptinspiegel mit Amenorrhoe).

Das Signalprotein Leptin wird fast ausschließlich durch Adipozyten sezerniert (wir sprechen daher von einem Adipokin). Sein Langzeit-Plasmaspiegel ist proportional zum Fettgewebs-Volumen des Individuums. Um dieses Niveau gibt es eine von den täglichen Mahlzeiten abhängige Oszillation mit in der Regel einem Tief vor dem Frühstück und einem Hoch am späten Abend. Längere Tagesphasen ohne Nahrungsaufnahme ("Postresorptionsphasen", z. B. in der zweiten Hälfte der Nacht) sind mit einem Abfall des Leptins verbunden: Geht das Leber-Glykogen zurück, führt der damit verbundene Plasmaglucose- und Insulin-Abfall zu einer Reduktion des Leptinspiegels. Das ZNS reagiert darauf mit Hungergefühl und einer Aktivierung der "Stress-Achse" CRH-ACTH-Cortisol. Erhöhtes Cortisol in Verbindung mit niedrigem Insulin führt zu Gluconeogenese, sodass der Blutzuckerspiegel stabilisiert wird. Dauert der Zeitraum ohne Nahrungsaufnahme länger als einen Tag ("Hungerphase" oder Fasten, obwohl das Hungergefühl dann wieder verschwindet), ist das Leberglykogen aufgebraucht, der Leptinspiegel halbiert sich und der Körper schaltet in einen Sparmodus, den wir später besprechen, wenn wir uns mit der Leber befassen.

Leptin und andere Signalmoleküle beeinflussen Neuronen im Nucleus arcuatus im Hypothalamus, neben dem Boden des 3. Ventrikels. Das ist möglich, da der Nucleus arcuatus der Eminentia mediana benachbart ist, die zu den zirkumventrikulären Organen gehört und außerhalb der Blut-Hirn-Schranke liegt. Erniedrigte Leptinwerte führen zu einem starken Hungergefühl, normale Leptinspiegel zu Zufriedenheit ("Sattheit") mit erhöhter Bereitschaft zu Aktivität und Energieverbrauch. Weitere Steigerung des Leptinspiegels durch Adipositas bleibt ohne nennenswerte zusätzliche Wirkung. Für eine gewisse Zeit bestand die Hoffnung, Leptin sei die Antwort für das verbreitete Übergewichtsproblem. Tatsächlich hat ein sehr kleiner Prozentsatz adipöser Menschen einen Leptinmangel. Die meisten stark übergewichtigen Menschen zeigen jedoch leider eine zentrale Leptin-Resistenz (ähnlich der Insulin-Resistenz bei Diabetes mellitus Typ 2), d. h., sie reagieren auf hohe Plasma-Leptin-Konzentrationen nicht mit vermindertem Appetit.

 

"Hunger" entsteht im Hypothalamus

Das Gefühl, satt zu sein, entsteht durch das Zusammenwirken von mehreren Signalen. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine zentrale Kooperation von Leptin und Insulin. Beide stimulieren POMC (Pro-Opiomelanocortin)-exprimierende Neuronen im Nucleus arcuatus. Diese anorexigenen (appetithemmenden) Neuronen sezernieren in ihren Synapsen im Nucleus paraventricularis ein POMC-Fragment, α-MSH (α-melanocyte stimulating hormone), das bestimmte Melanocortin-Rezeptoren (MC4R) auf den dortigen "Sattheitsneuronen" aktiviert und eine Einstellung der Nahrungsaufnahme sowie eine Erhöhung der Stoffwechselrate zur Folge hat. Etwa 4% der Patienten mit schwerer kindlicher Adipositas zeigen Mutationen im MC4R. POMC-Neuronen sezernieren überdies CART (Protein des cocaine- and amphetamine-regulated transcript), das auch Sattheit vermittelt und die Aktivität steigert. Die Aktivität der POMC-Neuronen wird übrigens auch durch Nikotin gesteigert, was den niedrigeren durchschnittlichen body mass index von Rauchern erklärt sowie die Tendenz zur Gewichtszunahme nach Rauchentwöhnung.

Pharmakologische Querverstrebung: Medikamente aus der Amphetaminfamilie wurden immer wieder als Appetitzügler eingesetzt. Diese Praxis wurde in der EU allerdings weitgehend beendet. Manche Präparate wiesen Suchtpotential auf, andere hatten zu viele unerwünschte Wirkungen: Herzrasen, Stimmungsschwankungen, Verstopfung. Mechanismus ist eine Steigerung der Konzentration von Serotonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt, da POMC-Neuronen auch über Serotonin- 5‑HT2C-Rezeptoren aktiviert werden. Die gleichzeitige Aktivierung von 5-HT2B fördert allerdings die Fibrosierung von Herzklappen und Pulmonalarterienwand und führte immer wieder zu pulmonalem Hochdruck und Klappenproblemen. Der 5‑HT2C–Agonist Lorcaserin war bis 2020 in den USA, nicht aber in der EU zur Unterstützung der Gewichtsabnahme zugelassen. Ebenso ist die Kombination Phentermin (Amphetaminderivat)/Topiramat (Antiepileptikum) in den USA, nicht jedoch in der EU zugelassen. In der EU zugelassen ist die Kombination Bupropion/Naltrexon, die bei der Testung gegenüber Placebo nur eine Gewichtsabnahme von 3-5% zeigte. Bupropion aus der Amphetamingruppe wird als Einzelsubstanz zur Raucherentwöhnung und zur Behandlung schwerer Depressionen eingesetzt, Naltrexon, ein Opioidrezeptorantagonist, zur Rückfallsprophylaxe ehemals Opioid‑ und Alkoholabhängiger. Naltrexon hemmt eine β‑endorphinvermittelte Autoinhibition der POMC-Neuronen. Beide haben als Nebenwirkung Appetithemmung, die nun im Kombinationspräparat zur Hauptwirkung erklärt wurde. Zu den sehr häufigen Nebenwirkungen gehören Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung und Bauchschmerzen, was eine Appetithemmung durchaus plausibel erscheinen lässt. In der klinischen Testung brachen 24% der Probanden die Behandlung aufgrund eines unerwünschten Ereignisses ab.

Leptin hemmt dagegen eine zweite Gruppe von Neuronen im Nucleus arcuatus, die Agouti-related peptide (AgRP) und neuropeptide Y (NPY) freisetzen. Diese wirken den POMC-exprimierenden Neuronen entgegen. AgRP wirkt am MC4R antagonistisch. Die AgRP-"Hungerneuronen"  fördern Hungergefühl, Nahrungsaufnahme und Aufbau von Depotfett, während sie die Bereitschaft zu Aktivität und die Thermogenese im braunen Fettgewebe drosseln. Ein eindrucksvolles Experiment, um die AgRP-Neuronen persönlich im vollen Schwung zu erleben, besteht darin, 24 Stunden lang keine Kalorien zu sich zu nehmen und sich dabei zu beobachten: antriebslos, frierend, übelst gelaunt.

Doch dann die Belohnung: ein gutes Essen! Schon die Aussicht auf baldige Nahrungsaufnahme hemmt über ZNS-Verknüpfungen die Aktivität der AgRP-Neuronen. Unser ZNS ist ein Organ zur Berechnung der Zukunft: Sitzen wir vor dampfenden Tellern, steigt unsere Zufriedenheit sofort und der Hunger lässt bereits nach; wir müssen nicht unter bohrenden Unlustgefühlen vor uns hin löffeln, bis erst nach dem Essen Leptin und Insulin ansteigen.

Was ist Hunger? Hunger ist ein zunächst ungerichtetes Gefühl der Unlust, das durch die Aktivierung von AgRP-Neuronen produziert wird. Wir versuchen, diesen unangenehmen Zustand zu vermeiden und lernen früh, welche Verhaltensweisen (Nahrungsaufnahme) die AgRP-Neuronen zum Schweigen bringen. Babys und kleine Kinder zeigen ihr Unlustgefühl bei Hunger sehr direkt. Sie können sich noch nicht selber helfen, doch haben sie keinerlei Schwierigkeiten, die Eltern entsprechend zu konditionieren.

Sensorische Einflüsse (der dampfende Teller) reduzieren die Aktivität der AgRP, aber eine weitere frühe Dämpfung geschieht in einer zweiten Phase durch Signale aus dem Darm. Das hat wahrscheinlich folgenden Hintergrund: würden wir essen, bis Glucose, Leptin und Insulin hoch genug sind, um AgRP-Neuronen abzuschalten, würden wir über das Ziel hinausschießen, da ja dann noch eine große Menge Nahrung im Darm zur Absorption ansteht. Also meldet der Darm bereits früher eine Schätzung, dass nun wohl mit einer gewissen Menge an Nahrung gerechnet werden kann ("Darm an Großhirn! Darm an Großhirn!"), und dass das Hungergefühl nun bitte aufgehoben werden möge. Dies geschieht über Signalpeptide wie PYY und GLP-1, die einerseits über afferente Neuronen des autonomen Nervensystems (N. Vagus zu Nucleus tractus solitarii), andererseits direkt ans ZNS melden.

Peptid YY (PYY)

PYY wird nach der Nahrungsaufnahme durch neuroendokrine L-Zellen in der Schleimhaut des distalen Darms freigesetzt. PYY-Spiegel steigen innerhalb von 15 min an, lange vor Nahrungsmittel die L-Zellen erreichen, und bleiben bis zu sechs Stunden erhöht. Vergleicht man Mahlzeiten gleichen Brennwerts mit jeweiliger Betonung auf Kohlenhydraten, Protein oder Fett, so findet man die höchsten Plasmaspiegel von PYY nach proteinreichen Mahlzeiten. Abgesehen von peripheren Effekten, wie die Reduktion von Magenmotilität und –sekretion, fördert PYY zentral das Sättigungsgefühl. PYY stimuliert Y2-Rezeptoren im Hypothalamus. Das führt wieder zur Aktivierung der appetithemmenden POMC-exprimierenden Neuronen im Nucleus arcuatus. Zusätzlich zu PYY trägt auch Cholezystokinin zur Entstehung des postprandialen Sättigungsgefühls bei.

Praktische Bedeutung: Eine proteinreiche Mahlzeit verzögert das Wiederauftreten des Hungergefühls am effektivsten und erleichtert es damit, eine generelle Kalorienreduktion durchzuhalten.

Protein wird einerseits täglich benötigt, andererseits gibt es davon keine Speicherform. Die Proteinaufnahme könnte damit ein sinnvoller Parameter zur Regelung der Nahrungsaufnahme sein. Die protein leverage hypothesis postuliert, dass man so lange isst, bis man genug Protein aufgenommen hat. Isst man also kohlenhydrat- und fettreiche Nahrung, hat man nach dieser Hypothese so lange weiter Appetit, bis man die benötigte Proteinmenge erreicht.

 

Glucagon-like peptide‑1 (GLP‑1)

Ein zweites von intestinalen L-Zellen freigesetztes Hormon ("incretin") ist GLP‑1 Das Peptid aus 31 Aminosäuren hat eine Plasmahalbwertszeit von nur 2 Minuten, da es rasch durch die Protease DPP4 (Dipeptidylpeptidase 4) gespalten wird. DPP‑4 wird auf den meisten Zellen als Transmembranprotein CD26 exprimiert, aber auch in löslicher Form sezerniert. Es spaltet Dipeptide (X-Prolin oder X-Alanin) vom N-Terminus von Polypeptiden. GLP‑1 verstärkt die glucoseabhängige Insulinsekretion durch β-Zellen im Pankreas und hemmt die Glucagonfreisetzung. Es vergrößert die β‑Zellmasse und verzögert die Magenleerung. Außerdem verstärkt es zentral über Neuronen mit GLP‑1-Rezeptoren in der Area postrema (zirkumventrikuläres Organ am caudalen Ende der Rautengrube, dorsal des Nucleus tractus soltarii) das Sättigungsgefühl.

Pharmakologische Querverstrebung: Zwei Klassen von Medikamenten werden eingesetzt, um die GLP‑1-Wirkung bei Diabetikern zu verstärken:

  • GLP‑1-Agonisten wie Liraglutid, Semaglutid
  • DPP4-Inhibitoren wie Sitagliptin

Da sie dieselbe Wirkungsweise haben, ist es nicht sinnvoll, sie miteinander zu kombinieren. Zusätzlich wurden Liraglutid und das noch klar wirksamere Semaglutid zur Unterstützung der Gewichtsabnahme bei Adipositas zugelassen. Semaglutid führte zu 17% Gewichtsabnahme nach etwas mehr als einem Jahr, einmal wöchentlich subcutan gespritzt. Es entfachte als Lifestyle-Medikament bei mäßig übergewichtigen Abnehmwilligen derartige Nachfrage, dass es für die eigentlichen Patienten nicht mehr ausreichend zur Verfügung stand. Gleichzeitig brachte es neue first world problems mit sich, wie das "Ozempic face": Runzeln und hängende Backen, da der Inhalt der Gesichtshaut nun geschrumpft ist – man wirkt älter. Tragisch, nun benötigt man eine neue Runde Facelifting. Semaglutid ist in 29 von 31 Aminosäuren identisch mit GLP‑1. Ein Ersatz von Alanin in der zweiten Position verhindert die Spaltung durch DPP4. Die GLP‑1-Antagonisten müssen langsam eingeschlichen werden, da es sonst zu massiver Übelkeit und Erbrechen kommt. Eine Goldgrube für die Hersteller: es bleibt bei einer Dauermedikation, sonst kommt das Gewicht wieder zurück.

Tirzepatid ist ein dualer Rezeptoragonist ("twincretin"), der sowohl den GLP‑1-Rezeptor als auch den GIP (glucose-dependent insulinotropic peptide)-Rezeptor aktiviert. GIP wird nach Nahrungsaufnahme aus K-Zellen des Zwölffingerdarms ausgeschüttet. [FDA May 2022] Tirzepatid, 10 oder 15 mg einmal wöchentlich s. c., führte zu einer Gewichtsabnahme von etwa 20% nach 72 Wochen; zusätzlich reduzierte es den Blutdruck ab dem ersten halben Jahr der Medikation, also wohl unabhängig von der Gewichtsabnahme.


Ghrelin

Ghrelin wird als der Haupt-Gegenspieler von Leptin betrachtet. Es wird während der Hungerphase durch bestimmte Schleimhautzellen des Magens, besonders im Fundus, gebildet, sowie im Pankreas. Bei der adipositaschirurgischen Methode der Sleeve-Gastrektomie wird ein Großteil des Fundus entfernt und damit auch die Ghrelinproduktion stark reduziert.

Ghrelin könnte der Name eines bösartigen Hungerkobolds sein, doch prosaischerweise ist es lediglich ein Akronym für growth homone release-inducing, da es auch an der Freisetzung von Wachstumshormon beteiligt ist. Es ist ein Peptid von 28 Aminosäuren. Sein Rezeptor wird einerseits von zentralen Neuronen im Nucleus arcuatus, andererseits von peripheren afferenten Vagus-Neuronen exprimiert. Ghrelin steigert das Hungergefühl und den Appetit. Es wird durch sportliche Anstrengung unterdrückt. Zusammenfassend trägt Ghrelin zur Steigerung des Körpergewichts und zum Längenwachstum bei.

 


6.  KOHLENHYDRAT-VERDAUUNG UND –AUFNAHME

Einfachzucker und raffinierter Zucker (Saccharose) in Form von Schokolade, Keksen, Konditoreiwaren etc. haben auf die meisten von uns eine große Anziehungskraft. Supermärkte steigern ihre Umsätze, indem sie diese regalweise dort positionieren, wo wir vor der Kasse stauen. Süßes wirkt positiv auf unser ZNS-Belohnungszentrum. Für unsere Vorfahren im altsteinzeitlichen Afrika war das ein nützlicher Mechanismus. Süßem begegneten sie selten, vielleicht, wenn es Beeren gab, oder wenn sie einen Bienenstock fanden. Denken wir an Weintrauben: Sie enthalten zur Hälfte Glucose (Traubenzucker), zur Hälfte Fructose, die gar nicht verdaut, sondern nur resorbiert werden müssen. Sie lösen eine enorme Insulinantwort aus und eignen sich damit hervorragend, in guten Zeiten Fettdepots für schlechte Zeiten anzulegen. In unserer Situation der dauernden reichlichen Verfügbarkeit führt das zu Übergewicht, metabolischem Syndrom und DM2.

Der Großteil natürlicher Kohlenhydrate wird in Form von Stärke aufgenommen. Stärke besteht aus geschichteten, wasserunlöslichen Körnern aus im Mittel 20-30 % Amylose und 70-80 % Amylopektin. Getreidekörner enthalten etwa 75 Gewichtsprozent Stärke, Reis 90 %, die wasserhaltige Kartoffel 15 %.

Amylose besteht aus linearen Ketten von α-1,4-glycosidisch verknüpften Glucose-Einheiten – 1000-2000 bei Getreide, 2000 bis 4500 bei Kartoffeln.

Amylopektin ist im Grunde gleich aufgebaut wie unser Glykogen: aus α-1,4-glycosidisch verknüpften Glucose-Einheiten plus α-1,6-glycosidischen Verzweigungen. Ein Amylopektin-Makromolekül ist aber viel größer als ein Glykogenmolekül und etwa 100 mal so groß wie Amylose. Die Ketten liegen, wie die Speichen in einem zusammengeklappten Schirm, eng aneinander und bilden so eine semikristalline Struktur.

Durch die Wasserunlöslichkeit der Stärkekörner sind diese für uns kaum verdaubar: die α‑Amylase kann nur ein wenig an der Oberfläche des Partikels knabbern, das Stärkekorn verhält sich als Ballaststoff. Das ist z.B. der Fall, wenn wir Rohkost essen. Es war deshalb eine glänzende Idee einer besonders intelligenten Urahnin, deren Namen leider vergessen ist, sich das Feuer nutzbar zu machen und eine ebenso glänzende Idee von WilMa Feuerstein (WMF), den Kochtopf zu entwickeln. Wenn wir die Rohkost in Wasser zu Suppe erhitzen, sprengen wir die Stärkekörner auf und machen deren Glucoseketten der α‑Amylase zugänglich. Damit holen wir aus denselben Pflanzen ein Vielfaches des Rohkostnährwerts. Leider ist dieser Prozess bis zu einem gewissen Grad umkehrbar. Steht die hydrierte Stärke eine gewisse Zeit kühl, bildet sich die semikristalline Struktur wieder aus. Wir nennen das "Retrogradation". Retrogradation macht unser Brot altbacken: es verliert Wasser und wird härter. Besonders rasch geht das um 0°C, darum sollte man Backwaren nie im Kühlschrank aufbewahren. Die Verhärtungswirkung lässt sich durch Backzusätze verzögern: Fette, Emulgatoren und Enzyme, insbesondere wieder Amylasen, welche die Stärke bereits während des Backprozesses verkleinern sowie Lipasen, die aus Fetten eine Fettsäure abspalten und damit wieder Emulgatoren erzeugen.

Wie gut wir Stärke verdauen können, hängt also von der Zubereitung der Lebensmittel ab. Nicht im oberen Dünndarm verdaubare Stärkeanteile nennen wir resistente Stärke:

RS1 – physisch weggeschlossene Stärke, wie in unverarbeiteten Körnern

RS2 – auf Grund ihrer Struktur für Amylase nicht zugänglich, wie in Rohkost

RS3 – wegen Retrogradation nicht mehr zugänglich

RS4 – neu vernetzte Stärkeabbauprodukte wie resistente Dextrine

RS5 – mit Lipiden komplexierte Stärken

Resistente Stärkeanteile sind für uns nicht vollständig verloren: Sie gelangen in den Dickdarm und dienen dort als Futter für viele Bakterien, die sie zu kurzkettigen Fettsäuren wie z.B. Butyrat verstoffwechseln. Kurzkettige Fettsäuren werden im Dickdarm absorbiert; außerdem ernähren sie dort direkt unsere Enterozyten.

Die Verdauung von Amylose und Amylopektin beginnt mit dem Enzym α-Amylase, das in Speichel und Pankreassekret vorkommt. Dazwischen, im Magen, pausiert die Kohlenhydratverdauung, da die α-Amylase durch die Magensäure inaktiviert wird. α-Amylase ist prinzipiell in der Lage, α‑1,4‑glykosidische Bindungen zwischen Glucoseeinheiten zu spalten, jedoch keine endständigen und keine, die α‑1,6‑glykosidisch verbundenen Einheiten benachbart sind. Aus der α-Amylase-Verdauung resultieren also keine Monosaccharide, sondern Zweier- (Maltose) und Dreier- (Maltotriose) –Einheiten von Glucose sowie die Verzweigungsstücke um α‑1,6‑verbundene Einheiten, die sogenannten Limit-Dextrine.

Die nächste Phase der Kohlenhydratverdauung erfolgt durch die drei Typen von Bürstensaumenzymen: Maltase (Glucoamylase), Lactase und Sucrase-Isomaltase. Maltase spaltet Maltose, Maltotriose und noch etwas längere 1,4‑verbundene Polymere in ihre Glucose-Einheiten. Lactase spaltet das Disaccharid Laktose (Milchzucker) in seine Monosaccharid-Einheiten Glucose und Galactose. Sucrase-Isomaltase ist ein zusammengehängtes Doppelenzym. Die Sucrase-Einheit spaltet das Disaccharid Saccharose (den Zucker aus der Zuckerdose) in seine Monosaccharide Glucose und Fructose. Die Isomaltase-Einheit spaltet die α‑1,6‑glykosidische Bindung der Limit-Dextrine und ist ebenfalls in der Lage, 1,4‑verbundene Einheiten zu spalten.

Die resultierenden Monosaccharide werden schließlich durch Transporter in die Enterozyten aufgenommen. Glucose wird zusammen mit Na+ im Verhältnis 1:2 durch den Natrium/Glucose-Cotransporter 1 (SGLT1) importiert. Bei mäßigem, oral behandelbarem Volumen- und Elektrolytverlust empfiehlt es sich daher, nicht nur eine Elektrolytflüssigkeit zu geben, sondern Kohlenhydrate oder Glucose zuzusetzen, da die Na+-Aufnahme so beschleunigt wird. SGLT1 kann Glucose und Galactose über die apikale Enterozytenmembran schleusen, nicht aber den Fünferring der Fructose. Fructose wird über GLUT5 aufgenommen. Alle drei Monosaccharide verlassen den Enterozyten auf der basolateralen Seite über GLUT2.

 

Glykämischer Index

Der Großteil der mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate erscheint im Blut in der Form von Glucose. Wie rasch das geschieht und wie hoch die Glucosespitze tatsächlich wird, hängt von der konkreten Zusammensetzung der Mahlzeit ab. Der glykämische Index (GI, Glyx) ist der Versuch, diese Eigenschaft von Nahrungsmitteln mit Hilfe einer einfachen Zahl auszudrücken. Der glykämische Index eines Nahrungsmittels ist definiert als das Verhältnis des Integrals der Blutzuckerkurve (area under the curve) über zwei Stunden nach Verzehr jener Menge des Nahrungsmittels, die 50 g Kohlenhydrate enthält, zum Integral der Blutzuckerkurve von 50g Glucose, multipliziert mit 100. Glucose selbst hat damit einen GI von 100. Nahrungsmittel mit hohem glykämischem Index, wie Weißbrot, Nudeln, Kartoffeln, die meisten Reissorten und die typischen industriellen Frühstücksflocken liegen um 70 und darüber; Nahrungsmittel mit niedrigem GI wie Gemüse und das meiste Obst, Vollkornprodukte sowie Molkereiprodukte liegen um 55 und darunter. (Achtung: in manchen, vor allem US-amerikanischen Tabellen, wird statt Glucose Weißbrot als Standard verwendet, was zu anderen Zahlen führt). Dem GI wird in vielen populären Diäten Bedeutung beigemessen, z. B. in der Glyx-Diät, der South Beach-Diät etc. Ist das berechtigt?

Die Aufnahme von Nahrungsmitteln mit hohem GI führt zu einem raschen Anstieg des Blutzuckers, gefolgt von einem entsprechenden Anstieg des Insulinspiegels. Dadurch wird in den nächsten Stunden die Verbrennung von Kohlenhydraten zu Lasten der Verbrennung von Fett gefördert, während überschüssige Glucose zu Fett umgewandelt wird. In sorgfältig kontrollierten Tierversuchen, z. B. mit Ratten, setzten Tiere unter hoher GI-Diät wesentlich mehr Fett an als Tiere, die mit einer niedrig-GI-Diät gleichen Energiegehalts und gleicher Nahrungszusammensetzung, inklusive gleicher Kohlenhydratmenge, ernährt wurden. Im Gegensatz zu den niedrig-GI-Tieren entwickelten die hoch-GI-Tiere auch Insulinresistenz.

Ob diese Resultate auf den Menschen übertragbar sind, ist in der wissenschaftlichen Literatur heftig umstritten. Am Menschen können diese Experimente nicht mit derselben Rigorosität durchgeführt werden. Veränderungen am GI einer komplexen Diät ändern notwendigerweise auch Faktoren wie Ballaststoffgehalt, "Biss", Zuckergehalt und damit deren Schmackhaftigkeit. Wir alle tendieren dazu, mehr zu essen, wenn es uns schmeckt. Bestimmend für die Entwicklung von Übergewicht bleibt die positive Energiebilanz; wenn überhaupt, spielt der GI eine dieser Bilanz nachgeordnete Rolle. Um auf der sicheren Seite zu sein, erscheint es bis zur endgültigen Klärung trotzdem sinnvoll, in unserer Ernährung Nahrungsmittel mit niedrigem GI zu betonen.

Praktische Umsetzung: Eine Umstellung auf niedrigen GI erreicht man beispielsweise beim Frühstück, indem man Weißbrot oder Frühstücksflocken durch Vollkornmüsli mit Joghurt und frischen Früchten ersetzt.

 

Laktose-Intoleranz

Lactase ist eine der Disaccharidasen am Enterozyten-Bürstensaum. Sie spaltet das Disaccharid Laktose in die Monosaccharide Glucose und Galactose. Während das Enzym in Säuglingen und Kleinkindern stark exprimiert wird, lässt die Expression im Lauf des Lebens nach. Deswegen tendieren Erwachsene weltweit dazu, im Lauf ihres Lebens Laktose-intolerant zu werden. Eine Ausnahme bilden die Nachkommen von Populationen, die sich in ihrer Ernährung traditionell stark auf Milchprodukte stützen, wie in Nordeuropa. Diese Art der Ernährung übte einen Selektionsdruck aus, der Individuen bevorzugte, die in der Lage waren, die Expression des Enzyms länger aufrecht zu erhalten. Diese Fähigkeit beruht auf einem einzigen SNP 14.000 Basen upstream des Laktasegens: normalerweise befindet sich dort ein C, bei Nachkommen der nordeuropäischen Milchbauern erzeugt ein T eine Bindungstelle für den Transkriptionsfaktor Oct1. Dieser zusätzlich gebundene Transkriptionsfaktor führt zur anhaltenden Expression des Laktasegens. Laktose-"Intoleranz" ist also der Normalfall, Laktasepersistenz die Ausnahme. Das erklärt, weshalb Laktose-"Intoleranz" bei Menschen mit afrikanischer oder asiatischer Abstammung die Regel ist, aber selten in Skandinavien vorkommt. Innerhalb Europas wird die Laktose-"Intoleranz" von Norden nach Süden häufiger; in den deutschsprachigen Ländern sind etwa 15% betroffen, in den Mittelmeerländern sind die Prozentsätze wesentlich höher.

Wenn Laktose nicht gespalten wird, kann sie von den Enterozyten nicht resorbiert werden. Durch den osmotischen Effekt der Laktose, sowie durch sekundär veränderte Zusammensetzung der Darmflora leiden betroffene Individuen unter Diarrhoe und Flatulenz nach dem Genuss von Milchprodukten (Milch, Eis, Käse, Schokolade…). Da Darmbakterien bei der Metabolisierung von Laktose H2 produzieren, kann ein Atemtest auf H2 nach einer Testdosis von Laktose zur Diagnose verwendet werden.

Fructose-Malabsorption

Die Kapazität des Fructose-Transporters GLUT5 ist begrenzt und variiert von Individuum zu Individuum. Wird die Transportkapazität überschritten, verursacht Fructose durch osmotischen Effekt und bakterielle Verstoffwechselung wiederum Diarrhoe und Flatulenz. Reich an Fructose sind der Zucker in unserer Zuckerdose, Früchte, Honig und mit Maissirup industriell hergestellte Lebensmittel. Ein hoher Prozentsatz der Menschen europäischen Ursprungs leidet an dieser Fructose-Malabsorption. Davon zu unterscheiden ist die sehr seltene hereditäre Fructose-Intoleranz, die durch eine Defizienz des Enzyms Aldolase B verursacht wird. Aldolase B ist das Enzym, das Fructose in der Leber in zwei Moleküle zu je drei Kohlenstoffatome spaltet.

Fructose wird kontroversiell diskutiert

Durch die Beliebtheit von raffiniertem Zucker (Saccharose), die Verwendung von Glucose-Fructose-Sirup (Maissirup mit hohem Fructosegehalt) in der industriellen Nahrungsmittelherstellung und die Zugabe von Fructose zu vielen Fertiggetränken weist unsere westliche Ernährung einen hohen Fructoseanteil auf. Fructose wird nach der Aufnahme im Darm von der Leber quantitativ aus dem Blut extrahiert und metabolisiert. Das dazu benötigte ATP wird dabei zu AMP und zum Teil weiter zu Harnsäure abgebaut. Es gib Hinweise, dass hoher Fructosekonsum so die Entstehung von Gicht begünstigt. Ein Teil der von der Leber metabolisierten Fructose wird in der Form von Glucose und Laktat ins Blut abgegeben, ein Teil zur Fettsynthese verwendet, was non-alcoholic fatty liver disease begünstigt. Bei Nagern führt fructosereiche Ernährung zu Insulinresistenz. Eine lange wissenschaftliche Debatte wird darüber geführt, ob das auch bei den tatsächlichen Fructosemengen, die der Mensch konsumiert, der Fall ist. Während es möglich erscheint, das Fructose auf Grund seiner ausschließlichen Verstoffwechselung in der Leber eine hepatische Insulinresistenz begünstigt, ist eine solche wahrscheinlich nur ein Teilaspekt eines allgemeineren Problems: wir nehmen zu viel einfache Zucker zu uns, und das führt zu Gewichtszunahme, Lipotoxizität und Insulinresistenz.

Eine glucosebetonte Mahlzeit löst in β-Zellen des Pankreas Insulinsekretion aus. Bei Fructose ist dieser Effekt viel geringer, da wegen seiner niedrigen Plasmaspiegel (<0,5 mM, verglichen mit 5,5 mM = 100 mg/dl für Glucose) viel geringere Mengen durch GLUT2 in die β-Zelle transportiert werden, sodass der Insulinspiegel nach Fructosezufuhr niedriger bleibt. Das klingt auf den ersten Blick wünschenswert, denn Insulin wandelt ja Kohlenhydrate in vergrößerte Fettspeicher um. Nun haben wir aber gerade gesehen, das Fructose ganz ohne die Notwendigkeit von Insulin zu vergrößerten Fettspeichern umgewandelt wird. Erinnern wir uns, dass Insulin, zusammen mit Leptin, im Hypothalamus als Sättigungssignal wirkt. Konsumiert jemand Fructose, fühlt sie sich weniger gesättigt als eine Vergleichsperson, die eine isokalorische Menge Glucose zu sich genommen hat. Experimentell wurde nachgewiesen, dass die Esslust derselben Personen nach der Einnahme einer fructosehaltigen Limonade höher war als nach einer glucosehaltigen. Fructose könnte damit unser generelles Problem, zu viel einfache Zucker zu uns zu nehmen, noch akzentuieren, das zu Übergewicht, Lipotoxizität und Insulinresistenz führt.

Acrylamid

Acrylamid entsteht durch Rösten oder Backen stärkehältiger Lebensmittel wie Chips, Keksen, Pommes frites oder Kaffee. Es wird mit der Nahrung aufgenommen. In der Leber entsteht daraus mit Hilfe von CYP2E1 Glycidamid, das DNA-Addukte bildet und so mutagen wirkt. Ob die Mengen an Acrylamid in der Nahrung kritisch sind, ist umstritten. In einem "umstrittenen" Fall ist es in der Regel wahrscheinlich, dass der Effekt zumindest nicht sehr groß ist.

 


7.  EISEN

Eisen ist in vielen biologischen Systemen ein limitierender Faktor. Menschen wie Tiere benötigen Eisen, um Sauerstoff zu transportieren und gezielt zu verstoffwechseln, in Hämoglobin, Myoglobin sowie in den Zytochrom-Enzymen. Etwa zwei Milliarden Menschen, mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung, haben Eisenmangel; etwa 500 Millionen leiden unter einer manifesten Eisenmangelanämie. Eisenmangel ohne Anämie kann zu unspezifischen ZNS-Symptomen (Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Kopfschmerzen, Restless Legs-Syndrom, anderen Schlafstörungen, bei Kindern Verzögerungen der mentalen und motorischen Entwicklung), Hautsymptomen (Mundwinkelrhagaden, Haarausfall) oder Palpitationen führen. Auch Pilze und Bakterien benötigen Eisen und wenden mitunter viel Energie und Ressourcen auf, um es zu bekommen. Ein Trick, mit dem unser Organismus Infektionen bekämpft, ist, den Mikroorganismen das Eisen vorzuenthalten.

Eisen aus der Nahrung wird hauptsächlich im Duodenum absorbiert. In unserer Nahrung kommt es einerseits in eine Hämgruppe integriert als Häm-Eisen, andererseits frei vor. Der Großteil des Häm-Eisens stammt aus dem Myoglobin von Fleisch. Es wird zusammen mit der Häm-Gruppe durch einen speziellen Transportprozess aufgenommen und erst im Enterozyten freigesetzt. Dieser Prozess ist effizienter als der Transport freien Eisens. Freies Eisen liegt in der Nahrung dreiwertig (Fe3+) oder zweiwertig (Fe2+) vor. Fe3+ ist über einem pH von 3 nicht löslich; es formt stabile Komplexe mit verschiedenen Anionen und wird nicht resorbiert. Fe2+  ist bis zu einem pH von 8 löslich; es wird gemeinsam mit einem Proton durch den divalent metal transporter (DMT1) aufgenommen.

Ernährungsaspekte: 15%-35% des Hämeisens werden aufgenommen, weitgehend unabhängig von der Nahrungszusammensetzung. Dagegen werden nur 5-12% des Nicht-Hämeisens aufgenommen, und diese Aufnahme kann durch Nahrungsfaktoren weiter reduziert werden. Eisenbindende Phytate, z. B. in Getreide, Tannine, z. B. in grünem Tee, Schwarztee und Kaffee, oder der alkalische pH von Milchprodukten reduzieren diesen Prozentsatz. Aus diesem Grund geraten Veganer und Vegetarier leichter in einen Eisenmangel, besonders in Situationen erhöhten Bedarfs wie bei Kindern, Schwangeren, Stillenden und Frauen mit starker Menstruationsblutung. Um pflanzliches Eisen möglichst gut aufzunehmen, eignen sich Hülsenfrüchte (Sojabohnen, Linsen, Kichererbsen), Ölsaaten (Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne), Nüsse (Mandeln, Walnüsse), Spinat (jaja, trotzdem), schwarze Melasse zeitlich getrennt von Tee- oder Kaffeegenuss. Zitronensaft (Ascorbinsäure, Säure) verbessert die Aufnahme, Protonenpumpenhemmer verschlechtern sie massiv.

Einschub Zink: Die in pflanzlicher Nahrung generell, aber in Getreide besonders reichlich enthaltene Phytinsäure bindet nicht nur Eisen, sondern auch Zink. Zugleich enthält pflanzliche Nahrung von vornherein weniger Zink als tierische. Das macht Zink bei rein pflanzlicher Ernährung zu einem potentiell kritischen Spurenelement. Zink ist für die korrekte Konformation vieler Proteine nötig (z. B. Zinkfinger in Steroidhormonrezeptoren) sowie für die enzymatische Funktion der meisten Metalloproteasen (z. B. Kollagenase). Zinkmangel kann zu Wachstumsstörungen und Entwicklungsverzögerungen bei Kindern führen, zu schlechterer Infektabwehr, Anorexie, psychiatrischen Störungen, Dermatosen, brüchigen Nägeln, Haarausfall und verminderter männlicher Fruchtbarkeit.

Eisen wird durch den solute carrier Ferroportin aus dem duodenalen Enterozyten ausgeschleust, ein Eisenexportprotein, das von allen Zellen exprimiert wird. Da Fe2+ wegen seiner Fähigkeit, Hydroxylradikale zu generieren, gefährlich ist, wird es während des Ausschleusungsvorgangs durch das Kupfer-Protein Hephaistin in dreiwertiges Eisen übergeführt.

Als Fe3+ wird es dann an Transferrin gebunden im Blut transportiert. Auch im Blut gibt es ein Kupferprotein, Coeruloplasmin, das zweiwertiges in dreiwertiges Eisen überführen kann.

Wenn zelluläre Eisenspiegel niedrig sind, wird die Aufnahme von Eisen aus dem Blut durch einen eleganten Mechanismus angekurbelt. Die mRNA für den Transferrin-Rezeptor enthält mehrere iron response elements (IRE) in ihrer 3'‑untranslatierten Region (UTR), die charakteristische stem-loop-Sekundärstrukturen bilden. Hat die Zelle Eisenbedarf, werden diese Strukturen durch bestimmte Proteine, IRE-binding proteins (IRE-BP) oder iron regulatory proteins (IRP), gebunden. Diese Bindung in der 3'-UTR schützt die mRNA davor, durch RNasen abgebaut zu werden, und sichert so eine hohe Expression des Transferrin-Rezeptors. Sobald der intrazelluläre Eisenspiegel ausreichend angehoben ist, bindet Fe2+ die iron regulatory proteins und führt diese in eine Konformation über, die nicht mehr an IRE binden kann. Dadurch wird die mRNA nun rasch abgebaut, sodass weniger Transferrin-Rezeptormoleküle hergestellt werden und die Eisenaufnahme in die Zelle reduziert wird.

Iron response elements werden auch umgekehrt verwendet: in der Ferritin-mRNA ist ein einzelnes IRE in der 5'UTR vorhanden, kurz vor dem Translations-Initiationscodon. Bei niedrigen intrazellulären Fe2+-Spiegeln wird das IRE durch IRP gebunden und die Translation dadurch blockiert (die mRNA-Stabilität wird dadurch offensichtlich nicht beeinflusst). Hohe intrazelluläre Fe2+-Spiegel entfernen das IRP, sodass aktive Translation große Mengen dieses Eisenspeicherproteins produziert. Der Großteil des Ferritins befindet sich intrazellulär; Plasmaferritin, das sich im Gleichgewicht mit intrazellulärem Ferritin befindet, kann jedoch Auskunft über die Eisenspeicher des Körpers geben. Ferritin-Speicherung eines Eisenüberschusses findet hauptsächlich in der Leber statt.

Die bis hier beschriebenen Mechanismen sind zwar zunächst in der Lage, intrazelluläre Eisenspiegel zu regulieren; durch dauernden Nachschub aus dem Darm würde der Organismus aber mit der Zeit überladen werden. Daher ist die Leber der Ausgangspunkt einer negativen Rückkoppelung. Hepatozyten "messen" den extrazellulären Eisenspiegel mit Hilfe eines Proteinkomplexes, der den Transferrin-Rezeptor und das MHC-I-ähnliche Transmembranprotein HFE (high Fe) enthält. Hinreichende Eisenspiegel führen zur Induktion und Sekretion des Signalpeptids Hepcidin. Dieses Peptid aus 25 Aminosäuren bindet an den Eisenexporter Ferroportin und führt zu dessen Internalisierung und Abbau. Ist also ausreichend extrazelluläres Eisen vorhanden, blockiert Hepcidin damit die Freisetzung von Eisen aus allen Zellen, inklusive aus den duodenalen Enterozyten. Nach kurzer Zeit verhindert die Akkumulation von Eisen in der Duodenalzelle die weitere Eisenaufnahme aus dem Darm.

Wie wir bereits in unserer Auseinandersetzung mit dem Immunsystem gesehen haben, wird in einem zweiten regulatorischen Mechanismus Hepcidin durch das Auftreten einer Entzündung reguliert. IL‑6 und andere inflammatorische Zytokine induzieren bekanntlich eine Akutphasenreaktion der Leber; diese beinhaltet auch eine Sekretion von Hepcidin. In diesem Fall werden dadurch die Makrophagen, die viel Eisen aus dem Abbau von alternden Erythrozyten, der Erythrophagozytose, enthalten, dadurch gehindert, dieses Eisen abzugeben. In einem weiter verstärkenden Mechanismus wird die Ferroportin-Expression der Makrophagen direkt durch TLR4-Aktivierung sowie durch inflammatorische Zytokine gebremst. Zusammen führen diese beiden Mechanismen dazu, dass Eisen im retikuloendothelialen System sequestriert ("weggesperrt") wird und damit den infizierenden Mikroorganismen nicht zur Verfügung steht. Während einer akuten Infektion stellt dieser kurzfristige "interne Eisenmangel" kein Problem dar. Bei einer chronischen Infektion, wenn diese Sequestrierung über lange Zeit anhält, kann dieser Mechanismus jedoch zu einer Eisenaushungerung der hämatopoetischen Vorläuferzellen und damit zu einer "Eisenmangelanämie" trotz überladener retikuloendothelialer Eisenspeicher führen. Ähnliche Mechanismen führen auch bei Tumorerkrankungen zur Anämie. Beides umfasst der Begriff anemia of chronic disease.

Serumeisen-Konzentration und Transferrinsättigung sind also sowohl bei Eisenmangelanämie als auch bei der durch chronische Entzündung ausgelösten Anämie erniedrigt. Ferritin ist bei Eisenmangelanämie erniedrigt, bei der Anämie chronischer Erkrankungen jedoch erhöht oder normal. Da die beiden Anämieformen aber häufig kombiniert auftreten, ist der Ferritinwert auch kein sicheres diagnostisches Mittel. Wenn Ferritin erniedrigt ist, besteht jedenfalls ein Eisenmangel. Bei einer reinen Eisenmangelanämie spricht diese auf Eisensubstitution an; bei der Kombination von Eisenmangel mit Anämie chronischer Erkrankung nicht: In diesem Fall wird orales Eisen nicht aufgenommen und intravenös verabreichtes Eisen in den Lebermakrophagen gespeichert, sodass es der Erythropoese nicht zur Verfügung steht.

 

Hämochromatose

Eisenüberladung wirkt bald toxisch. Sie tritt sekundär nach häufigen Transfusionen oder bei bestimmten hämolytischen Anämien auf, oder primär als hereditäre Hämochromatose. Der Großteil dieser Patienten (type 1) hat eine Mutation im HFE-Gen, und hier wieder der Großteil eine bestimmte Mutation, Cys282Tyr. Der Defekt führt über eine unzureichende Hepcidin-Expression zu einer ungehemmten Eisenaufnahme aus dem Darm, was im Lauf der Jahre zu einer Eisenüberladung des Organismus mit Leberzirrhose, Diabetes mellitus, Arthritis und starker Hautpigmentierung führt. Über Hepcidin wird der Gesamteisenspeicher bei gesunden Erwachsenen zwischen 2-6g reguliert; im Rahmen einer Hämochromatose wächst dieser jährlich um 0.5 bis 1 g, und kann schließlich bis zu 50 g betragen. Die Symptome der Erkrankung manifestieren sich daher bei Männern meist erst jenseits des 40. Lebensjahres, bei Frauen durch die Monatsblutungen in der Regel überhaupt nicht. Die Therapie ist mittelalterlich einfach, aber effektiv: Aderlass, bis die Eisenspeicher korrigiert sind. Die C282Y-Mutation ist erst vor 1200-1400 Jahren in Nordeuropa entstanden und im Verhältnis dazu in Menschen mit europäischen Wurzeln sehr häufig: etwa 10% sind heterozygot, ca. 1 Person in 200 bis 400 homozygot. Klinisch erkrankt jedoch auch bei Männern nur ein Teil der Homozygoten. Die Häufigkeit dieser jungen Mutation lässt einen selektiv wirkenden Vorteil vermuten. Frauen könnte sie erleichtern, die monatlichen Eisenverluste auszugleichen. Makrophagen, die bei Erkrankten eisenentleert sind, könnten in diesem Zustand leichter mit intrazellulären Erregern wie Mycobacterium tuberculosis und Salmonella typhimurium fertig werden.

 


8.  FOLSÄURE

Folsäure kommt in vielen Gemüsen vor, z. B. in Spinat, Salat, Bohnen, Broccoli; in Leber und abgeleiteten Produkten sowie, wie dessen Anhänger selten zu betonen vergessen, in Bier. Folsäure ist in der Tetrahydrofolat (THF)-form notwendig für die Nucleotid-Synthese (sowohl für Purine, als auch für Thymidin) und damit für alle Gewebe mit hoher Proliferationsrate. Zusätzlich wird es für viele C1-Gruppentransfers mit Ausnahme von Carboxylierungen, die Biotin-abhängig sind, benötigt. Ein typisches Beispiel ist die Synthese von Methionin aus Homocystein. Homocystein ist toxisch; seine Konzentration wird durch diese komplexe Reaktion mit Hilfe von THF und B12 niedrig gehalten. Folatmangel ist die häufigste Ursache einer Hyperhomocysteinämie und daher ein kardiovaskulärer und neurodegenerativer Risikofaktor. Abhängig von der spezifischen Reaktion, wird THF in einer von mehreren Formen benötigt: die Synthese von dTMP aus dUMP ist z. B. auf 5,10‑methylen-THF angewiesen, die Methioninsynthese auf N5‑methyl-THF.

Aus der Nahrung nehmen wir Folat hauptsächlich in seiner Polyglutamatform auf. Im Duodenum werden die Glutamatreste schrittweise von einer membranständigen Peptidase abgespaltet. Monoglutamatfolat wird dann durch Austausch gegen ein Hydroxyl-Ion (OH-) absorbiert. Folsäure wird hauptsächlich in der Leber gespeichert. Sie wird zuerst zu Dihydrofolsäure (DHF), dann durch das Enzym Dihydrofolatreduktase (DHFR) zur aktiven Tetrahydrofolsäure reduziert, um anschließend durch Serin, das dadurch zu Glycin wird, mit der C1-Gruppe beladen zu werden.

Folsäuremangel führt zu Problemen in allen rasch proliferierenden Geweben, wird aber klinisch vor allem als Anämie sichtbar. Die Zahl der produzierten Erythrozyten ist zu gering; in einem kompensatorischen Mechanismus werden sie dafür mit möglichst viel Hämoglobin angestopft. Das macht sie allerdings wieder anfälliger für den Abbau, da sie sich nicht so leicht durch die Spalträume des Retikuloendothelialen Systems in der Milz quetschen lassen. Wir sprechen von einer hyperchromen, makrozytären oder auch von einer megaloblastären Anämie.

Zellproliferation ist besonders hoch in der Embryonal- und Fetalperiode. Folsäuremangel in dieser Phase kann zu Neuralrohrdefekten wie Spina bifida führen. Schwangere werden aus diesem Grund routinemäßig mit Folsäure substituiert. Da Neuralrohrdefekte aber sehr früh in der Schwangerschaft auftreten, ist es wichtig, schon vor der Empfängnis ausreichend Folsäure zu sich zu nehmen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt Folsäureeinnahme für "Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten".

 


9.  VITAMIN B12

Eines der komplexesten "kleinen" Moleküle unseres Körpers ist Vitamin B12 oder Cobalamin. Bisher sind nur zwei Enzymreaktionen bekannt, für die dieses Koenzym benötigt wird: die Synthese von Methionin aus Homocystein und die "Entzweigung" von Methylmalonat, das beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren und Aminosäuren entsteht. Bei der Methioninsynthese arbeitet B12 mit N5‑Methyl-THF zusammen, von dem es die Methylgruppe übernimmt. Ohne B12 ist N5‑Methyl-THF eine metabolische Sackgasse, aus der Tetrahydrofolat nicht mehr regeneriert werden kann. Vitamin B12 kann nur von bestimmten Bakterien synthetisiert werden, wird jedoch von vielen anderen Bakterien und allen Tieren, in Summe also einer enormen Nahrungskette, gebraucht. Da es in Pflanzen nicht vorhanden ist, müssen wir es mit tierischen Produkten aufnehmen: mit Fleisch, Fisch, Eiern, und in einem geringeren Ausmaß auch mit Milchprodukten. B12-Mangel ist daher noch vor Eisenmangel das Hauptproblem veganer Ernährung. Kein Problem ist es, wenn man industriell mit Hilfe bestimmter Bakterien hergestelltes B12 als Nahrungsergänzung zu sich nimmt. Für eine quantitativ ausreichende synthetische Herstellung ist das Molekül zu kompliziert.

Vitamin B12 wird nur im Ileum absorbiert und muss bis dorthin vor Abbau im Verdauungstrakt geschützt werden. Im sauren Milieu des Magens wird es zunächst durch das Protein Haptocorrin (R-Protein) gebunden, das von Speicheldrüsen und Magenschleimhaut sezerniert wird. Parietalzellen der Magenschleimhaut produzieren gleichzeitig intrinsic factor (IF), ein Glycoprotein, das B12 später im Duodenum übernimmt, wenn Haptocorrin durch Pankreas-Proteasen abgebaut wird. Der B12:IF-Komplex ist in der tobenden Verdauungsschlacht außerordentlich stabil. Im Ileum angekommen, wird der Komplex über Rezeptor-vermittelte Endozytose aufgenommen. Dieser Prozess ist absolut IF-abhängig: freies B12 wird vom Rezeptor weder gebunden noch aufgenommen. Im Enterozyten dissoziiert der Komplex; B12 wird von Transcobalamin übernommen, das auch für die Exozytose und den Transport zur Leber sorgt. Ein großer Pool von Vitamin B12 besteht in der Leber und wird enterohepatisch rezirkuliert: mit der Galle ausgeschieden und im Ileum wieder resorbiert.

Perniziöse Anämie

Wenn in einem der zahlreichen Systeme, die zur Aufnahme von Vitamin B12 benötigt werden, ein Problem besteht, wird zu wenig B12 resorbiert. Neben nahrungsbedingtem Mangel bei strengen Vegetariern ist eine häufige Ursache ein Autoimmunreaktion gegen Parietalzellen. Der Mangel wird schleichend wirksam, da in der Leber eine mehrjährige Reserve besteht. Die Symptome sind die eines Folsäuremangels. Fehlendes B12 blockiert auf die Dauer die Folsäurereserven des Körpers in der N5‑Methyl-THF-Form, sodass zu wenig 5,10‑methylen-THF zur Verfügung steht. 5,10‑Methylen-THF wird aber unbedingt für die Synthese von dTMP aus dUMP (Enzym: Thymidylatsynthase) benötigt. Auch N10-Formyl-THF, das für die Synthese des Purin-Grundgerüsts benötigt wird, ist zu wenig vorhanden. Dadurch ergibt sich dieselbe Art von hyperchromer, makrozytärer Anämie wie bei Folsäuremangel. Es wäre auch möglich, diese Anämie durch dauernde Zufuhr von frischer Folsäure zu kaschieren, doch wäre das ein Kunstfehler, da weitere B12-Mangelsymptome durch Folsäurezufuhr nicht verhinderbar sind.

Weitere mögliche Symptome des B12-Mangels sind eine charakteristische atrophe Glossitis und neurologische Probleme, beginnend mit Polyneuropathie. In schweren Fällen ist auch das ZNS betroffen mit Erinnerungsstörungen, Depression, Schwäche und Ataxie. Für Schwäche und Ataxie sind hauptsächlich Entmarkungsherde in Rückenmarksbahnen verantwortlich, auf die sich der Name des Krankheitsbildes, funikuläre Myelose bezieht. Der pathophysiologische Mechanismus ist hier nicht im Detail geklärt, möglicherweise trägt ein erhöhter Homocysteinspiegel dazu bei.


10.  SELEN

Betrachten wir Selen als ein herausgegriffenes Beispiel für Spurenelemente. Selen steht mit Sauerstoff und Schwefel in der sechsten Hauptgruppe; es reagiert also leicht und nimmt gerne Elektronen auf, hat aber eine höhere Bereitschaft als Halogene, diese auch wieder abzugeben. Es ist unabdingbar für einige wichtige Redoxreaktionen, wie die Entgiftung von Peroxiden durch Glutathionperoxidasen, sowie für die Aktivierung und Inaktivierung von Schilddrüsenhormon durch Iodthyronin-Dejodinasen. Ein Beispiel dafür haben wir schon erwähnt: die Aktivierung braunen Fettgewebes. Selen wird in Form einer besonderen Aminosäure, der 21. Aminosäure, Selenocystein, in diese Enzyme eingebaut. In Selenocystein nimmt Selen die Stelle des üblichen Schwefelatoms ein. Im genetischen Code gibt es kein eigenes Codon für Selenocystein. Stattdessen kann eines der drei Stop-Codons, UGA, mit Hilfe eines speziellen Translationsfaktors als Selenocystein-Codon interpretiert werden, indem dieser an eine Signal-Schleifenstruktur in der 3'‑UTR der Enzym-mRNA bindet.

In den meisten Gegenden ist es nicht nötig, sich über Selen Gedanken zu machen. Es gibt allerdings einige definierte Regionen, besonders in China, in denen der Boden wenig Selen enthält und die Nahrungszufuhr daher zu gering ist. Selenmangel kann dort zur Keshan-Krankheit führen, die durch eine lebensgefährliche Kardiomyopathie gekennzeichnet ist.

 


11.  FETTSÄUREN

Fettverdauung und –aufnahme betrachten wir weiter unten im Rahmen der Leberfunktionen. Hier widmen wir uns zunächst den Fettsäuren vom ernährungswissenschaftlichen Standpunkt aus.

Der Typ der enthaltenen Fettsäuren hängt von der Herkunft der Nahrungsfette ab. Gesättigte Fettsäuren sind typisch für unser eigenes Depotfett, sowie für das von Tieren  wie Schweinen, Rindern und Schafen. Fleisch und Milchprodukte wie Butter enthalten daher in erster Linie gesättigte Fettsäuren. Beispiele sind Palmitinsäure (16:0) und Stearinsäure (18:0; die erste Zahl gibt die Anzahl der C-Atome, die zweite jene der Doppelbindungen an). Palmöl, das billigste Nahrungsfett, enthält etwa 40% Palmitinsäure und 40% einfach ungesättigte Ölsäure. Ungesättigte Fettsäuren enthalten mindestens eine Doppelbindung. Unser Organismus ist in der Lage, einfach ungesättigte Fettsäuren wie Ölsäure (18:1) zu synthetisieren, nicht aber mehrfach ungesättigte Fettsäuren (PUFA, polyunsaturated fatty acids). PUFA werden von Pflanzen synthetisiert; um leben zu können, müssen wir zumindest zwei davon mit der Nahrung aufnehmen: Linolsäure (18:2) und α-Linolensäure (18:3), die wir deshalb als essentielle Fettsäuren bezeichnen. Von diesen beiden ausgehend, können wir andere PUFA wieder selbst herstellen; allerdings ist unsere Kapazität zur Synthese der wichtigen langkettigen n-3 PUFA Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) aus α‑Linolensäure stark limitiert, wir können nur etwa 1% der α‑Linolensäure zu DHA umwandeln. PUFA kommen besonders in bestimmten Pflanzenölen vor. Fettfische enthalten reichlich langkettige n-3 PUFA, die ursprünglich in Algen im Meer synthetisiert und durch die Nahrungskette angereichert werden.

Docosahexaensäure ist für die Entwicklung und Funktion von Gehirn und Auge wichtig; sie ist angereichert in den Phospholipiden der Zellmembranen in Gehirn und Retina. DHA macht 15‑20% aller Fettsäuren im frontalen Cortex aus. Da Veganer*innen keine Fische essen, ist DHA ein potentiell kritischer Nährstoff für sie, speziell wieder für Schwangere, Stillende und deren Kinder. Ein Ausweg besteht darin, DHA an der Quelle noch vor den Fischen, aus Mikroalgenkulturen zu gewinnen und in Form von Mikroalgenöl zuzuführen.

Es steht außer Zweifel, dass das Gemisch an Fettsäuren, das wir mit der Nahrung aufnehmen, unsere Gesundheit beeinflusst. Unser diesbezügliches Wissen stammt aus ernährungswissenschaftlichen Studien, in denen der menschliche Organismus als black box behandelt wird: die Zusammensetzung der Nahrung verschiedener Kohorten oder Populationen wird dabei korreliert mit gemessenen Gesundheitsparametern. Die molekularen Mechanismen hinter den Korrelationen bleiben dabei in der Regel im Dunkeln. Zwar wurden zahlreiche Hypothesen formuliert, doch bleiben diese unzureichend geprüft.

Die Diskussionen über Fettsäuren konzentrieren sich auf zwei Bereiche: n-3/n-6- und Trans-Fettsäuren.

 

n-3/n-6 mehrfach ungesättigte Fettsäuren

Abhängig von der Distanz der ersten Doppelbindung vom Methylende der Fettsäure aus, also "vom hinteren Ende", fallen die meisten mehrfach ungesättigten Fettsäuren in eine von zwei Gruppen:

  • n-3-Fettsäuren (häufig auch als ω-3-Fettsäuren bezeichnet), wie z. B. α-Linolensäure (18:3), Eicosapentaensäure (EPA; 20:5) und Docosahexaensäure (DHA; 22:6). Fettfische sind reich an langkettigen n-3-Fettsäuren. Die einzige Ölsaat, die vorwiegend α‑Linolensäure enthält, ist der gemeine Lein oder Flachs, der in Europa seit der Jungsteinzeit angebaut wird. Das Leinöl oxidiert sehr leicht, härtet dabei bald aus und wurde deshalb als letzte, konservierende Firnis-Schicht für Ölbilder verwendet (daher das Wort Vernissage).
  • n-6-Fettsäuren, wie Linolsäure (18:2) und Arachidonsäure (20:4). Eine Reihe von Pflanzenölen enthalten vorwiegend Linolsäure: Sonnenblumenöl, Maiskeimöl, Sojaöl, Distelöl und Walnussöl.

Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass Grönländische Inuit nur sehr selten koronare Herzkrankheit entwickelten, obwohl sie sich praktisch ausschließlich von fettreicher tierischer Nahrung ernährten. Da sie in Form von Fettfisch hohe Mengen langkettiger n-3 PUFA zu sich nahmen, wurde ein kausaler Zusammenhang vermutet. Seither durchgeführte Kohortenstudien sowie randomisierte Interventionsstudien mit Fischöl führten im Einzelfall zwar zu widersprüchlichen Ergebnissen; das Gewicht der Daten spricht jedoch für eine Bestätigung dieses Zusammenhangs. Der Mechanismus bleibt unklar. Beschrieben wurde eine Hemmung der inflammatorischen Aktivität des Fettgewebes durch n-3 PUFA. Andererseits wurden auch für n-6-PUFA positive Effekte auf Arteriosklerose beschrieben. Wahrscheinlich sind zwei Gesichtspunkte von Bedeutung:

1.   dass wir ausreichend PUFA im Verhältnis zu gesättigten Fettsäuren aufnehmen

2.   dass die aufgenommenen PUFA in einem günstigen Verhältnis n‑3:n‑6 liegen. Empfohlen wird ein Verhältnis von mindestens 1:5; in unserer westlichen Ernährung liegt das tatsächliche Verhältnis jedoch um 1:15.


Trans-ungesättigte Fettsäuren

Ungesättigte Fettsäuren liegen in einer von zwei möglichen Konfigurationen vor: cis oder trans. Cis bedeutet, das die Kohlenstoffketten auf derselben Seite der Doppelbindungsachse liegen; die Fettsäure bekommt dadurch einen Knick. Dieser Knick hat zur Folge, dass ein Bündel von Cis-Fettsäuren schwer zu "schlichten" ist, während die kerzengeraden gesättigten Fettsäuren oder die nur ein winziges Bajonett enthaltenden Trans-Fettsäuren viel leichter zu schlichten sind. Mit anderen Worten: gesättigte und Trans-Fettsäuren, sowie komplexe Lipide, die diese enthalten, haben einen relativ hohen Schmelzpunkt, während Cis-Fettsäuren einen niedrigen Schmelzpunkt haben. So hat z. B. die gesättigte C18-Fettsäure, Stearinsäure, einen Schmelzpunkt von 69°C, die mono-ungesättigte Trans-Fettsäure Elaidinsäure einen von 45°C, während die entsprechende Cis-Fettsäure, Ölsäure, einen Schmelzpunkt von nur 17°C hat. Bei einer Körpertemperatur von 37°C sind Lipide mit cis-ungesättigten Fettsäuren daher "fluider" als solche mit gesättigten oder trans-ungesättigten Fettsäuren, die eher dazu tendieren, sich zusammenzulagern. Mangelnde Fluidität kann allerdings nicht die beobachteten negativen Effekte von Trans-Fettsäuren erklären, da unser Organismus ja vowiegend gesättigte Fettsäuren enthält, die noch weniger fluid sind. Diskutiert wird, dass Trans-Fettsäuren durch ihre Bajonettstruktur Enzyme behindern, die andere Fettsäuren metabolisieren sollen. Zwar ist man sich über die genauen Mechanismen noch nicht einig, doch sind Trans-Fette mit einem höheren Risiko für Atherosklerose, koronare Herzkrankheit und Schlaganfälle assoziiert. Zusätzlich wurde beschrieben, dass Trans-Fette das unerwünschte LDL-Cholesterol heben und das "gute" HDL-Cholesterol senken.

Also, wir wünschen mehr Cis-Fette und weniger Trans-Fette. Woher kommen sie eigentlich?

Cis-Fette stellen den Großteil pflanzlicher Fette dar. Nach ihrer Extraktion liegen sie durch ihren niedrigen Schmelzpunkt bei Raumtemperatur flüssig, als Öle vor. Beispiele sind Olivenöl (75% Ölsäure, 10% Linolsäure, 15% gesättigt), erucasäurearmes Rapsöl (60% Ölsäure, 20% Linolsäure, 10% α-Linolensäure, 7% gesättigt, bis zu 4% Trans-Fette durch den Raffinationsprozess),  Maiskeimöl (50% Linolsäure, 30% Ölsäure, 15% gesättigt), Sojaöl (55% Linolsäure, 25 Ölsäure, 10% gesättigt) und Sonnenblumenöl (65% Linolsäure, 20% Ölsäure, 10% gesättigt). Eine Züchtung zur Reduktion der Linolsäure, high oleic acid-Sonnenblumenöl (80% Ölsäure, 10% Linolsäure, 10% gesättigt) nähert sich der Zusammensetzung von Olivenöl. Leinöl enthält als einziges Pfanzenöl vorwiegend n-3-Fettsäuren (63% α-Linolensäure, 15% Linolsäure, 15% Ölsäure, 7% gesättigt). Es ist besonders empfindlich gegenüber Sauerstoff, oxidiert leicht und wird dabei rasch bitter. Tipp: In kleinen Mengen kaufen, großzügig als Salatöl verwenden und rasch verbrauchen! Diese Prozentsätze (zusammengefasst in der Grafik nach dem nächsten Absatz) sind nur Anhaltspunkte, da die Zusammensetzung erheblichen Schwankungen unterliegt.

Trans-Fette kommen in geringer Konzentration im Fett von Wiederkäuern vor. So kann Butter (70% gesättigt, 20-25% Ölsäure) bis zu 4% Trans-Fette enthalten. Aus den bisher erwähnten Gründen konsumierten Menschen bis vor wenigen Jahrzehnten nur geringe Mengen an Trans-Fetten. Das änderte sich mit der industriellen Nahrungsmittelproduktion. Pflanzliches Öl ist billig zu gewinnen, doch oxidiert es leicht (es wird "ranzig"), es ist schwerer zu transportieren und man kann es nicht aufs Brot streichen. Also wurden Methoden entwickelt, Pflanzenfette zu härten (sprich: den Schmelzpunkt hinaufzusetzen). Diese beruhen auf partieller Hydrierung. Die Idee ist, einen Teil der Doppelbindungen mit Wasserstoff abzusättigen, sodass teils gesättigte, teils ungesättigte Fettsäuren mit einer reduzierten Anzahl an Doppelbindungen entstehen. Der Prozess hat jedoch den Nachteil, dass er einen erheblichen Anteil der so behandelten Fettsäuren in die trans-Konfiguration bringt. Im Grunde verwandeln wir damit gute Nahrungsfette in schlechtere. Gehärtete Fette mit hohem Trans-Fett-Anteil verdrängten in der Folge andere Fette in vielen Bereichen, speziell in der industriellen Herstellung von Streichfetten, Backwaren, Knabbergebäck, Snacks und Fastfood.

Typical percentages of fatty acids in dietary fats

Den negativen gesundheitlichen Aspekten von Trans-Fetten wurde über viele Jahre wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Später führte wachsendes Gesundheitsbewusstsein allerdings in vielen Ländern zu Gesetzesänderungen, welche den zulässigen Anteil der Trans-Fette in industriell hergestellter Nahrung sowie in Restaurant-Speisen stark reduzierten.

Zur Reduktion kardiovaskulärer Erkrankungen empfiehlt die WHO seit 2018, nicht mehr als 10% des täglichen Kalorienbedarfs in Form von gesättigten Fetten und nicht mehr als 1% in Form von Trans-Fetten zu sich zu nehmen. Große epidemiologische Studien haben ergeben: Ersetzt man Kohlenhydratkalorien durch Fettkalorien, führt das zu einer gesenkten Mortalität, solange es sich um ungesättigte Fette handelt. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren senken die Mortalität dabei stärker als einfach ungesättigte Fettsäuren. Ersetzt man allerdings Kohlenhydrate durch gesättigte Fette, führt das zu einer leichten Steigerung der Mortalität, während ein Ersatz durch Trans-Fette zu einer starken Steigerung der Mortalität führt.

 


12.  NAHRUNGSPROTEINE, BEGINN DER PROTEINVERDAUUNG IM MAGEN

Wie decken wir unseren Bedarf an Nahrungsmittelprotein? Nahrungsmittel tierischen Ursprungs enthalten die richtige Mischung an Aminosäuren. Neben ethischen und Klimawandelbedenken hat diese Lösung jedoch auch einen ernährungsphysiologischen Haken: Fleisch, Milchprodukte, Eier enthalten, wie wir gerade gesehen haben, die "falschen", nämlich ganz überwiegend gesättigte, Fettsäuren, zudem beträchtliche Mengen an Cholesterol.

Pflanzliche Nahrungsmittel enthalten die "richtigen" Fette, dafür jeweils eine "falsche" Mischung an Aminosäuren. Den relativen Mangel an Lysin in Getreiden und Reis haben wir uns bereits bewusst gemacht; bei Mais ist zudem Tryptophan limitierend, Hülsenfrüchte weisen einen reduzierten Gehalt an schwefelhaltigen Aminosäuren auf, etc.

Die traditionelle, "altsteinzeitliche" Lösung dieses Problems besteht darin, wenig Fleisch und viel Pflanzliches zu essen. Das ist auch für Kinder mit ihrem hohen Bedarf an ausgewogenem Protein, Eisen, B12 und Ca2+ zu empfehlen.

Möchte man auf tierische Nahrungsmittel ganz verzichten, muss man mehr Aufmerksamkeit investieren und auf eine Mischung der pflanzlichen Proteinquellen achten. Relativ viel Protein enthalten Hülsenfrüchte (Sojabohnen, Bohnen, Erbsen, Linsen, Kichererbsen, Erdnüsse), Ölsaaten (Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne) und Nüsse (Mandeln, Walnüsse, Haselnüsse). Als Basis eignet sich wegen ihrer relativ besten Aminosäureverteilung die Sojabohne/Tofu, doch muss ihr niedriger Gehalt an schwefelhaltigen Aminosäuren (Methionin, Cystein) aus anderen pflanzlichen Quellen kompensiert werden.

Mütter, die sich vegan oder vegetarisch ernähren und das auch für ihre Babys anstreben, sollten ihre Säuglinge stillen. Damit bekommen diese automatisch ausreichend Protein in der richtigen Aminosäurezusammensetzung (und in der Regel ausreichend Docosahexaensäure). Falls das nicht möglich oder erwünscht ist, bleibt nur die Möglichkeit einer Säuglingsnahrung auf Sojabasis. Diese ist angereichert mit Methionin; ebenso ist sie angereichert mit Eisen und Zink, da sie Phytinsäure enthält, die, wie erwähnt, Eisen und Zink bindet. Ein Bereich der Unsicherheit ergibt sich daraus, dass in dieser Säuglingsnahrung Soja-Isoflavone (Genistein, Daidzein und Glycitein) enthalten sind, die als Phytoöstrogene wirken. Mögliche negative Folgen im späteren Leben dieser Kinder können noch nicht sicher ausgeschlossen werden.

*

Die Verdauung der Nahrungsproteine beginnt in der "Mischmaschine" Magen durch das Zusammenwirken von Säure und Pepsinogen. Für die Verdauung von Kohlenhydraten und Fetten spielt der Magen nur eine geringe Rolle.

Proteine sind relativ schwer zu "knacken". Die Faltung schützt die meisten Proteine vor dem Angriff durch Proteasen. Der erste Schnitt ist der schwierigste. Ist der einmal gemacht, verlieren die entstehenden Bruchstücke einen Teil dieser Faltung und können leichter weiter abgebaut werden. Sehr hohe Protonendichte (der pH im Magen erreicht Werte um 1) denaturiert (entfaltet) Teile der Proteine und ermöglicht so die ersten Schnitte. Proteasen werden danach eingeteilt, welche chemische Gruppe sie verwenden, um eine Peptidbindung aufzubrechen: so gibt es Serin-, Cystein-, Aspartat- und Metalloproteasen. Die Aktivität von Endopeptidasen, die Peptidbindungen im Inneren einer Aminosäurekette aufbrechen, ist von der Aminosäuresequenz des Substrats abhängig. Pepsin ist eine Aspartat-Protease, die neben hydrophoben Aminosäuren schneidet; besonders effizient nach Phenylalanin. Um Proteine effizient abzubauen, wird daher eine Reihe von Proteasen benötigt, die an verschiedenen Stellen schneiden.

Die Bestandteile des Magensekrets werden von den zahlreichen Drüsen der Magenschleimhaut sezerniert. In die Epithelschicht sind unterschiedliche Zelltypen integriert. Nebenzellen produzieren schützenden Schleim, Hauptzellen Pepsinogen und Magenlipase, (neuro)endokrine Zellen Signalmoleküle. Dazu gehören z. B. im Antrum G-Zellen, die das Signalpeptid Gastrin produzieren, und D-Zellen, die Somatostatin sezernieren, das der Gastrinproduktion entgegenwirkt. Stammzellen und deren noch undifferenzierte Nachkommen, transit amplifying cells, sorgen für Zellnachschub. Die Salzsäure wird von Beleg- oder Parietalzellen gebildet.

Belegzellen können auf Stimulation ihre apikale Membranoberfläche durch Ausbildung intrazellulärer Kanal-Labyrinthe mit Mikrovilli um den Faktor 50-100 vergrößern. Basis der Salzsäureproduktion ist eine H+/K+-ATPase, die Protonen im Austausch gegen K+ in das Lumen pumpt. K+ strömt durch K-Kanäle wieder ins Lumen zurück und Chlorid-Ionen folgen durch Chloridkanäle. Die Protonen werden durch Aufnahme von CO2 und H2O in die Parietalzelle generiert, die durch Carboanhydrase zu H+ und HCO3- umgesetzt werden. HCO3- verlässt die Zelle basolateral durch Austausch gegen Chlorid. Netto resultiert die Abgabe von HCl in das Magenlumen. Diese Sekretion wird durch Vagus-Neuronen über Acetylcholin, sowie über Gastrin aus G-Zellen im Antrum angekurbelt. Diese beiden Stimuli wirken einerseits direkt an den Parietalzellen, andererseits indirekt, indem sie die Ausschüttung von Histamin aus neuroendokrinen Zellen unter dem Epithel, den ECL-(enterochromaffin-like) Zellen, bewirken. Parietalzellen rezipieren das Histamin über H2-Rezeptoren.

Pharmakologische Querverstrebung: Protonenpumpenhemmer wie Omeprazol binden kovalent an Cysteine auf der zytosolischen Seite der Pumpe und inaktivieren diese irreversibel. Die Wirkung hält länger als einen Tag an, bis eine ähnliche Zahl neuer Pumpenproteine nachproduziert wird. Kompetitive H2-Rezeptorantagonisten wie Ranitidin bremsen die Säureproduktion ebenfalls, wurden aber durch die Protonenpumpenhemmer weitgehend verdrängt.

Pepsinogen ist das Produkt der Hauptzellen. Es wird über eine Reihe von neuronalen und Hormonstimuli freigesetzt, von denen Acetylcholin aus Vagus-Neuronen der wichtigste ist. Pepsinogen benötigt Säure. Bei niedrigem pH spaltet es sich spontan in ein N-terminales Peptid und das aktive Pepsin. Dieser Prozess wird erst unter pH 3 effizient und dadurch positiv rückgekoppelt, dass dann auch Pepsin selbst Pepsinogen spaltet. Pepsin ist eine Endopeptidase mit pH-Optimum zwischen 1,8 und 3,5; darüber ist Pepsin inaktiv. Das Produkt der Pepsinspaltung sind große Peptide, sogenannte Peptone, die ihrerseits G-Zellen im Magenantrum zur Sekretion von Gastrin und I-Zellen in der Duodenalschleimhaut zur Sekretion von Cholezystokinin anregen.

Um die Aufgaben der Magensäure zusammenzufassen: Säure erleichtert das Spalten von Peptidbindungen; bei sehr niedrigem pH beschleunigt sich bereits die spontane Hydrolyse von Peptidbindungen wesentlich. Säure bewirkt auch eine Denaturierung der Proteine, die diese erst für Proteasen angreifbar macht. Schließlich tötet die Magensäure den Großteil aller Bakterien ab und schützt uns damit vor Infektionen. Diesen Vorteilen steht der Nachteil gegenüber, dass Salzsäure (HCl) natürlich dieselben Wirkungen auf die Zellen der Magenschleimhaut hat. Die einzige Möglichkeit, die Epithelschicht vor schweren Gewebsschäden zu bewahren, ist der Schutz durch einen dauernd erneuerten Schleimfilm mit neutralem Milieu.

Schleimproduzierende Zellen sitzen an der Oberfläche des Magens, in den Eingängen der Magendrüsen und in den Drüsen selbst. Schleim besteht aus Tetrameren des Glycoproteins Mucin, die lange sulfatierte Kohlenhydratketten binden, die einen großen Wassermantel tragen. Dieser dauernd nachproduzierte Schleimteppich wird durch HCO3- alkalisiert und bildet damit eine neutralisierende Diffusionsbarriere für das Magenepithel. Der fließende Teppich wird von unten ständig nachproduziert und von oben ständig verdaut. Von den Schleimzellen produziertes HCO3- bleibt in den Maschen gefangen; aktives Pepsin wird vom Maschenwerk draußen gehalten. Die wenigen eindringenden Pepsinmoleküle werden durch den höheren pH inaktiviert. Die Produktion von HCO3- ist abhängig von lokal produziertem Prostaglandin E (PGE), das über die Cyclooxygenase 1 (COX1) hergestellt wird.

Pharmakologische Querverstrebung: Wollen wir Medikamente oral verabreichen, stellt die Magensäure oft eine Herausforderung für die Galenik dar. Manche Medikamente würden durch die Magensäure inaktiviert werden, andere die Magenschleimhaut schädigen. Ein Beispiel ist der Protonenpumpenhemmer Omeprazol selbst, der im Magen vor Säure geschützt werden muss. Eine Möglichkeit ist, solche Tabletten mit einer magensaftresistenten Schicht zu überziehen. Allerdings führt das oft dazu, dass die Tablette lange im Magen liegen bleibt. Der Magen funktioniert ja als "Mischmaschine", die den Zweck hat, proteinreiche Nahrung lange im sauren Milieu zu halten, wobei die Peristaltik beträchtliche Drücke erzeugt. Damit keine zu großen Mengen in das Duodenum hinausgedrückt werden, kontrahiert sich der Pylorus, sodass nur Brei und Partikel kleiner als 2 mm Durchmesser hindurch gelangen. Partikel, die größer sind, bleiben paradoxerweise im Magen liegen, bis dieser entleert ist; erst dann erschlafft der Pylorus und entlässt die letzten größeren Partikel. Eine so genannte monolithische magensaftresistente Tablette bleibt also, besonders, wenn jemand regelmäßig etwas "dazu isst", über viele Stunden im Magen und wird möglicherweise erst in der Nacht (oder drei Tabletten gleichzeitig, bei 3x1!) entlassen und damit wirksam. Gelöst werden kann das Problem durch so genannte MUPS (multi-unit pellet system), bei denen separat magensaftresistente Pellets kleiner als 2 mm Durchmesser zu einer Tablette zusammengefasst werden. Die Tablette zerfällt im Magen, die Pellets können den Pylorus passieren. Teuer!

 


13.  GASTRITIS UND ULCUS VENTRICULI / DUODENI

Eine Verminderung des Schutzwalles mit oberflächlichen Erosionen finden wir bei der Gastritis. Beim Ulcus ist die Schleimhaut lokal völlig durchbrochen. Dieser Substanzdefekt in der Magenwand ist im sauer-proteolytischen Dauerbeschuss extrem schwer zu schließen. Bis zur Entwicklung der Protonenpumpenhemmer und der Erkenntnis, das die behandelbare Infektion mit Helicobacter eine pathogenetische Rolle spielt, war es vielfach der einzige Ausweg, den Großteil des Magens operativ zu entfernen.

Helicobacter pylori ist säureresistent und kolonisiert besonders die Schleimhaut des Antrums, da im Fundus die Parietalzellen am dichtesten sind und damit die höchste Säurekonzentration herrscht. Das Bakterium bewegt sich im Säuregradienten chemotaktisch Richtung neutraleres Milieu, daut sich durch Proteasen in die Schleimschicht ein und dockt an Magenepithelzellen an. Es stellt seinen eigenen HCO3-Puffer durch Spaltung von Harnstoff mittels Urease her. Das dabei entstehende NH4+ ist, wie die Proteasen, toxisch für die danebenliegende Schleimhautzelle. Nur ein Teil der H. Pylori-Stämme ist pathogen. Diese enthalten einen Genomabschnitt, der als cag-pathogenicity island (cag- cytotoxin-associated gene) bezeichnet wird. Die dort kodierten Gene befähigen das Bakterium, Peptidoglykan ins Innere der Schleimhautzelle zu injizieren, das über NOD-like receptors erkannt wird und eine Entzündung auslöst, welche die Schleimhautwand auflockert. Das Eindringen in die Schleimhautwand verschafft Helicobacter eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit. Durch die Veränderungen wird auch mehr Gastrin und damit insgesamt mehr Säure gebildet. Obwohl nur ein Teil der Träger Beschwerden bekommt, ist H. pylori für den Großteil der Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre verantwortlich; an zweiter Stelle liegen die NSAIDs, die weniger als ein Fünftel der Geschwüre auslösen. Zehn bis zwanzig Prozent der Infizierten entwickeln im Lauf ihres Lebens ein Ulcus. Die Infektion kann durch Nachweis der Spaltung von 13C- oder 14C-radioaktiv markiertem Harnstoff im Atemtest nachgewiesen werden. Harnstofflösung wird getrunken, 13C-CO2 wird abgeatmet.

Pharmakologische Querverstrebung: Zwei extrem häufig zur Entzündungshemmung eingesetzte Medikamentfamilien, Glucocorticoide und nicht-steroidale Entzündungshemmer  (NSAIDs), hemmen über unterschiedliche Mechanismen die Produktion von PGE. Da dies auch in der Magen- und Darmschleimhaut geschieht, macht der dadurch verminderte Schleimhautschutz Magenulcera und –Blutungen zu gefürchteten Nebenwirkungen längerdauernder anti-entzündlicher Therapien. Um diesem Effekt entgegenzuwirken, werden Protonenpumpenhemmer als "Magenschutz" eingesetzt. Leider nützt dieser "Schutz" nur im Magen, nicht aber in den Darmabschnitten hinter dem Magen, während die NSAIDs-Schädigung sich dort natürlich ebenso auswirkt. Weiters wurden, um die in allen Zellen konstitutiv exprimierte COX‑1 weniger zu beeinträchtigen, COX-2-Hemmer entwickelt, um präferentiell diese in Makrophagen und anderen Entzündungszellen induzierbare Isoform zu hemmen. Diese Entwicklung war nur teilweise erfolgreich, da COX‑2-Hemmer zwar weniger magenbelastend sind, doch eine verstärkte Neigung zu atherothrombotischen Ereignissen mit sich bringen.

 


14.  PROTEINVERDAUUNG UND –AUFNAHME

Aus dem Magen werden kleine Portionen Chymus (Speisebrei) vom Pylorus (Pförtner) in den Zwölffingerdarm entlassen. Dieses Gemisch ist sauer und enthält das Resultat der Pepsinwirkung, Peptone. Der niedrige pH stimuliert S-Zellen der Duodenalschleimhaut zur Freisetzung von Sekretin, das Pankreasgangzellen zur Sekretion von HCO3 stimuliert. Peptone stimulieren I-Zellen im Duodenalepithel zur Freisetzung von Cholecystokinin (CCK). CCK stimuliert den Gallefluss durch Kontraktion der Gallenblase und regt die Bauchspeicheldrüse zur Freisetzung ihres Enzymcocktails an. Gemeinsam führen Sekretin und CKK also zur Freisetzung der Pankreas-Verdauungsenzyme in einem reichlichen Volumen alkalischen Sekrets, das den Speisebrei neutralisiert.

Im Duodenum wir die Proteinverdauung durch eine Reihe pankreatischer Enzyme fortgesetzt, die ihr pH-Optimum im leicht alkalischen Bereich haben. Diese werden ebenfalls als inaktive Vorstufen sezerniert: Trypsinogen, Chymotrypsinogen, Proelastase, Proprotease E sowie die Procarboxypeptidasen A und B. Trypsinogen wird durch das Bürstensaum-Enzym Enteropeptidase (Enterokinase) durch Abspaltung eines Peptids zu Trypsin aktiviert. Trypsin aktiviert sowohl weitere Trypsinogenmoleküle, als auch die anderen Proteasen und Peptidasen. Trypsin ist eine Serinprotease, die Aminosäureketten nach den basischen Aminosäuren Lysin und Arginin spaltet. Das verwandte Chymotrypsin, ebenfalls eine Endopeptidase, spaltet nach Phenylalanin, Tyrosin, Tryptophan und Methionin. Die Carboxypeptidasen sind Exopeptidasen, knabbern also die Aminosäuren einzeln vom C-Terminus ab. Das Resultat dieses Verdauungsvorgangs sind einzelne Aminosäuren (etwa 30%) und Peptide aus wenigen Aminosäuren (70%).

Den Rest besorgen die Enterozyten des Dünndarms in zwei Stufen: durch zahlreiche Bürstensaum-Peptidasen sowie zahlreiche cytosolische Peptidasen. Bürstensaum-Exopeptidasen verkleinern die bestehenden Peptide zunächst weiter, und Transporter für Tetra-, Tri- und Dipeptide (PepT1) sowie für einzelne Aminosäuren sorgen für deren Aufnahme in Enterozyten, als Kotransport mit Protonen oder Na+. Tetra-, Tri- und Dipeptide werden im Cytosol des Enterozyten in einzelne Aminosäuren zerlegt und diese basolateral ins Pfortaderblut ausgeschleust.

Durch die bisher beschriebenen Mechanismen werden nur Aminosäuren aufgenommen. Vergessen wir dabei nicht, dass in geringem Ausmaß aber auch größere Peptide und komplexe Proteine durch das Epithel geschleust werden. Dafür sind besonders die M-Zellen im Epithel über den Peyer-Plaques verantwortlich (siehe Skript Immunologie). Dies hat den Sinn, das Immunsystem über die Antigensituation im Darmlumen zu informieren.


15.  PANKREATITIS

Mehr noch als das Magensekret stellt das Pankreassekret eine biochemische Bombe dar. Diese ist gewöhnlich sorgfältig gesichert. Proteasen werden als inaktive Vorstufen produziert. Sie werden in sekretorischen Granula von anderen Zellbestandteilen ferngehalten. In diese Granula werden Enzymhemmer mitverpackt: der Hauptschalter Trypsinogen wird zusätzlich durch einen pankreatischen Trypsininhibitor gesichert, der bis zu 10% "versehentlich" aktiviertes Trypsin abfangen kann. Der Inhalt der Granula wird auf einen niedrigeren pH-Wert gebracht, bei dem die Enzyme nicht aktiv sind.

Trotzdem kommt es manchmal zu einer Aktivierungskaskade noch im Pankreas, das sich dann prompt selbst zu verdauen beginnt. Die häufigsten Auslöser sind Gallensteine, die in der Papilla Vateri stecken bleiben, und kräftiger Alkoholkonsum. Die Kausalkette von diesen Auslösern zur akuten Pankreatitis ist noch unzureichend geklärt. Bei Gallenkonkrementen schädigen die zurückgestauten Gallenbestandteile die Pankreas-Zellmembranen, sodass diese permeabler werden. Es ist auch möglich, dass durch eine Ventilfunktion etwas Duodenalinhalt mit aktiviertem Trypsin in das pankreatische System zurück fließt. Auch bei Alkoholkonsum kann die Stimulierung zu einem Stau führen, bei der die bereits in der aktiven Form sezernierte Lipase die Membranen schädigt.

Einige Polymorphismen erleichtern die Entstehung einer Pankreatitis, die dadurch auch familiär auftreten kann. Das Trypsinogen im Pankreassekret ist das Produkt mehrerer ähnlicher Gene. Die Varianten können durch unterschiedliche Ladung elektrophoretisch unterschieden werden. Die Mutation Arg122His in der Hauptvariante, dem sogenannten kationischen Trypsinogen (Gen: PRSS1 für Protease, Serine, 1), führt dazu, dass einmal aktiviertes Trypsin länger aktiv bleibt, da es durch ein anderes Trypsinmolekül nicht mehr geschnitten werden kann. Ein solches Allel genügt; diese Form der Pankreatitis-Prädisposition verhält sich daher autosomal dominant. Mutationen im Trypsininhibitor (Gen: SPINK1 für Serine Protease Inhibitor, Kazal-type 1) verhindern das Auffangen von autolytisch aktivierten Trypsinogenmolekülen und verhalten sich autosomal rezessiv.

Akute Pankreatitis kann lebensbedrohlich sein. Die Aktivierung der Selbstverdauung führt zur Freisetzung des Enzymcocktails und zur sekundären Aktivierung von Entzündungszellen und Endothel im ganzen Körper. Folgen können disseminierte intravaskuläre Koagulation, Hämolyse, Schock, Nierenversagen und acute respiratory distress syndrome (ARDS) sein.

 

16.  ZYSTISCHE FIBROSE (MUKOVISZIDOSE)

Zystische Fibrose ist die häufigste lebensbedrohliche genetische Erkrankung von Menschen Europäischen Ursprungs; die Häufigkeit der autosomal rezessiven Erkrankung beträgt etwa 1 in 2000. Der Name "zystische Fibrose" bezieht sich auf die typische Zerstörung des Pankreasgewebes, die durch den Mangel an Verdauungsenzymen zu schweren Ernährungsstörungen und frühem Tod der Patienten führte. Seit die Enzyme oral substituiert werden können, stellen Lungenerkrankungen das zentrale Problem dar. Eine zähe Schleimschicht behindert den Transport durch das Flimmerepithel und stellt einen idealen Nährboden für Infektionen mit Pseudomonas aeruginosa und Staphylococcus aureus dar.

Zystische Fibrose wird durch Mutationen im CF-Gen verursacht, das den cystic fibrosis transmembrane conductance regulator (CFTR) kodiert. CFTR ist notwendig, um das HCO3-reiche Pankreassekret zu erzeugen. Dabei ist CFTR eigentlich ein Cl--Transporter auf der apikalen Membran des Pankreasgangepithels, doch wird das zunächst ausgeschleuste Cl gebraucht, um es wieder gegen das intrazellulär befindliche HCO3einzutauschen. CFTR besteht aus zwei Transmembrandomänen mit benachbarten ATP-Bindungsstellen, die eine intrazelluläre Domäne mit zahlreichen Phosphorylierungsstellen für PKA und PKC umschließen. Die Aktivierung von PKA erfolgt via cAMP durch Sekretin, jene von PKC über parasympathisches Acetylcholin. In Summe aktivieren Verdauungsstimuli also die Produktion von HCO3–reichem Sekret über die Phosphorylierung von CFTR.

Eine Mutation, ΔF508, ist für etwa zwei Drittel aller CF-Fälle verantwortlich. Die Deletion von Phenylalanin 508 führt zu einer Fehlfaltung des Proteins, sodass es rasch degradiert wird und gar nicht die apikale Membran erreicht. Zahlreiche weitere Mutationen, in Summe mehr als 1000, wurden in jeweils nur einem geringen Anteil der Patienten gefunden. Manche von diesen haben einen totalen, andere nur einen teilweisen Funktionsausfall zur Folge. CFTR wird für die Funktion vieler Epitheltypen benötigt. Der Ausfall von CFTR kann daher ein breites Spektrum von weiteren Symptomen mit sich bringen, z. B. Mekoniumileus bei Neugeborenen, Nasennebenhöhlenentzündungen, Infertilität, sekundären Diabetes oder biliäre Zirrhose.

Pharmakologische Querverstrebung: Bei Patienten mit einer homozygoten ΔF508-Mutation kann die Kombination Lumacaftor/Ivacaftor (Tablette, Orkambi®) die Symptome etwas verbessern: Lumacaftor hat Chaperonwirkung, sodass ein kleiner Anteil der CFTR-Proteine korrekt faltet, die Membran erreicht und durch Ivacaftor eher offen bleibt.

 


EINIGE NICHT-INFEKTIÖSE DARMERKRANKUNGEN

17.  ZÖLIAKIE

Zöliakie wird auch als Gluten-sensitive Enteropathie oder, heute selten, als Sprue bezeichnet. Die Darmerkrankung kann in genetisch prädisponierten Individuen durch bestimmte Proteine aus Weizen, Roggen oder Gerste ausgelöst werden. Hafer wird von den meisten Patienten toleriert, ist aber häufig mit anderen Getreiden kontaminiert. Mais und Reis sind unproblematisch. Mit einer Prävalenz von 0,5 bis 1% ist die Erkrankung bei Menschen mit Europäischem genetischen Hintergrund häufig; sie ist weniger häufig bei anderen Populationen. Erinnern wir uns: Getreide ist erst seit etwa 10.000 Jahren ein wesentlicher Teil der menschlichen Ernährung.

Die Nomenklatur von Getreideproteinen ist für Nichtexperten ziemlich verwirrend. Um die Keimung zu ermöglichen, enthält ein Getreidekorn Kohlenhydrate (in Form von Stärke) und Aminosäuren (in Form von Speicherproteinen). Stärke sowie ein Teil der Proteine sind wasserlöslich. Das Gemisch der nicht-wasserlöslichen Proteinfraktion wird als Gluten bezeichnet, abgeleitet vom lateinischen Wort gluten, für Klebstoff. Die in Alkohol lösliche Subfraktion  dieser Glutenproteine werden Prolamine genannt, weil sie viele Proline und Glutamine enthalten. Prolamine haben in den einzelnen Getreidesorten unterschiedliche Namen: in Weizen werden sie Gliadine genannt, in Gerste, Hordeine und in Roggen, Secaline. Weizen ist die in unserer Ernährung vorherrschende Getreidesorte; daher spielen Gliadine, von denen es α/β-, γ- und ω‑Formen gibt, die größte Rolle.

Da unsere Verdauungsproteasen Peptidbindungen neben Glutamin und Prolin nur unzureichend schneiden, sind Gliadine widerstandsfähig gegen enzymatische Verdauung im Darm. Der Verdauungsprozess resultiert daher in typischen Peptidfragmenten, die z. B. die Größe von 10-35 Aminosäuren haben. In prädisponierten Personen lösen diese Peptidfragmente auf zwei Arten Immunreaktionen aus.

Gliadinpeptide haben direkte Wirkungen auf Enterozyten, über erst zum Teil aufgeklärte Mechanismen. Manche Gliadin-Peptide haben eine gewisse Affinität zum Chemokinrezeptor CXCR3. Aktivierung von CXCR3 führt zur Sekretion von Zonulin (Prä-Haptoglobin 2), einem Protein, das die tight junctions durchlässiger macht, sodass mehr Gliadinpeptide die Epithelschranke überwinden können. Zudem können so durch Gliadinpeptide CXCR3-exprimierende Lymphozyten angezogen werden.

Gliadinpeptide stimulieren Enterozyten auch zur Sekretion von IL‑15 und zur Expression von MICA, einem MHC-I-verwandten Transmembranprotein. IL‑15 stimuliert intraepitheliale Lymphozyten zur Expression von MICA-Rezeptor NKG2D. Über diesen nicht-adaptiven Mechanismus töten die Lymphozyten Epithelzellen, sodass die Darmwand noch durchlässiger wird. Überdies führt der Mechanismus mit der Zeit zu einer Reduktion der Zahl an Enterozyten und damit zu einer Schleimhautatrophie.

Ein zweiter Mechanismus beruht darauf, dass das ubiquitär exprimierte Enzym Gewebstransglutaminase (tissue transglutaminase, tTG) Glutamin zu Glutaminsäure umwandelt. Die desaminierten, nun negativ geladenen Gliadinfragmente werden präferentiell in den Peptidbindungsspalt bestimmter MHC-II-Moleküle eingebaut und so präsentiert. Die dazu geeigneten MHC-II-Moleküle sind Varianten von HLA-DQ2.5 (Heterodimere, die von DQA1*05:01 und DQB1*02:01-Allelen stammen) oder HLA-DQ8 (Heterodimere von DQA1*03:01 und DQB1*03:02-Allelen). Diese Allele sind sehr häufig; ihr Vorhandensein in einem Individuum bedeutet nicht, dass eine Zöliakie zu erwarten ist, doch sind andere DQ-Typen offensichtlich nicht in der Lage, dieselbe Funktion auszuüben. Antigen-präsentierende Zellen (APC) präsentieren die desaminierten Gliadinpeptide naiven CD4-positiven T-Zellen und aktivieren diese. Die T-Zellen differenzieren hauptsächlich zu TH1-Zellen, die IFNγ produzieren und Makrophagen aktivieren. Damit lösen sie eine chronische Entzündung der Darmwand aus. Da diese Mechanismen eine zelluläre Immunreaktion darstellen, handelt es sich um eine Form der Typ IV-Überempfindlichkeitsreaktion.

Gemeinsam führen die beiden Mechanismen zu einem Verlust reifer Enterozyten, der durch verstärkte Proliferation der transit amplifying-Vorläufer in den Krypten nur unzureichend wettgemacht werden kann. Die diagnostische Dünndarmbiopsie zeigt demgemäß Villusatrophie, Kryptenhyperplasie und eine große Zahl an intraepithelialen Lymphozyten.

Vor der Biopsie empfehlen sich Laboruntersuchungen auf IgA-Antikörper gegen Gewebstransglutaminase (tTG). Diese diagnostisch hilfreichen Antikörper sind nach gegenwärtigem Wissen eine Nebenerscheinung, keine Krankheitsauslöser. Gewöhnlich kommen keine tTG-spezifischen T-Helferzellen vor- sie sollten auch nicht vorkommen, da tTG ja ein normales Selbst-Molekül ist. Die entsprechenden B-Zellen bekommen ihre Hilfe von Gliadin-spezifischen Helferzellen, wenn B-Zellen mit einem tTG-spezifischen B-Zell-Rezeptor einen Komplex aus tTG und Gliadin internalisieren und in der Folge selbst ein Gliadinpeptid auf ihren DQ-Molekülen präsentieren. Gliadin-spezifische T-Zellen geben also die Hilfe zur Produktion eines tTG-spezifischen Autoantikörpers. Einen analogen Mechanismus haben wir bereits bei den Konjugatimpfstoffen kennengelernt.

Zöliakie kann in jedem Alter und in sehr verschiedener Intensität beginnen, und zeigt oft uncharakteristische Symptome. Das Defizit an funktionellen Enterozyten kann schleichend zu Mangelernährung führen, z. B. in Hinsicht auf Eisen, Ca2+ oder einzelne Vitamine. In voller Ausprägung führt Zöliakie zu chronischen Durchfällen mit starker enteraler Gasbildung, Gedeihstörungen und Gewichtsverlust.

Die einzige wirksame Therapie besteht in einer lebenslangen glutenfreie Ernährung.

Manche Menschen haben weder eine Zöliakie noch eine klassische Allergie gegen Weizenbestandteile, vertragen aber weizenbasierte Nahrungsmittel trotzdem nicht gut. In solchen Fällen werden ATI (Amylase-Trypsin-Inhibitoren, Glutenproteinbestandteile) und FODMAPS (fermentable oligosaccharides, disaccharides, monosaccharides, and polyols) diskutiert. Die Idee ist, dass FODMAPS durch manche Individuen schlechter verdaut werden können und/oder ATI-Bestandteile des Glutens den Verdauungsprozess verzögern. In beiden Fällen würde das zur vermehrten Fütterung von Darmbakterien mit entsprechenden intestinalen Symptomen führen.

 


18.  INFLAMMATORY BOWEL DISEASE

Eine ungerechtfertigte oder überschießende Aktivierung des Immunsystems in der Darmwand ist das gemeinsame Merkmal zweier Erkrankungen, Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, die unter der Bezeichnung inflammatory bowel disease (IBD) zusammengefasst werden (die direkte deutsche Übersetzung, "entzündliche Darmerkrankung", hat nicht dieselbe begriffliche Bedeutung). Bei vielen Ähnlichkeiten unterscheiden sich die beiden Erkrankungen in der Lokalisation und in der Eindringtiefe des entzündlichen Geschehens. Colitis ulcerosa ist auf Rektum und Colon begrenzt und betrifft nur Mucosa und Submucosa; Perforationen sind selten. Morbus Crohn kann dagegen jeden Abschnitt des Gastrointestinaltrakts befallen. Häufig betrifft er mehrere Abschnitte zugleich, z. B. terminales Ileum und Rektum, mit einem Entzündungsprozess, der in der Regel die gesamte Darmwand einbezieht.

IBD ist allem Anschein nach eine überschießende Immunreaktion gegen Teile der Darmflora. In diesem Sinn ist es keine Autoimmunerkrankung, da kein Autoantigen vorliegt. Andererseits könnten wir unsere Darmmikrobiota mit einiger Berechtigung als Teil unseres "weiteren Selbst" betrachten, da wir dafür unter normalen Umständen Immuntoleranz entwickeln. Bei Patienten mit IBD hat dieser Tolerisierungsprozess nicht ausreichend funktioniert.

Dieser mangelnden Tolerisierung wird offensichtlich durch bestimmte Allele polymorpher Genloci Vorschub geleistet. Bei vielen IBD-Patienten ist die Barrierefunktion des Darmepithels beeinträchtigt:

  1. Während der innere Zusammenhang noch nicht geklärt ist, findet man bei Patienten mit bestimmten NOD2-Allelen, dass die tight junctions zwischen Enterozyten durchlässiger sind als gewöhnlich. Erinnern wir uns: NOD2 ist ein intrazellulärer pattern recognition receptor für PAMPs (pathogen-associated molecular patterns) aus der Bakterienzellwand. Erinnern wir uns auch, dass H. Pylori diesen Mechanismus aktiv missbraucht, um die Magenwand aufzulockern.
  2. Patienten mit spezifischen Allelen anderer Gene produzieren geringere Mengen an Defensinen, antibakteriell wirkenden Peptiden, die z. B. von Paneth-Zellen am Boden der Krypten freigesetzt werden.
  3. Wieder andere Patienten haben einen veränderten IL‑23-Rezeptor. IL‑23 ist ein mit IL‑12 verwandtes proinflammatorisches Zytokin, das TH17- und NK-Zellen in ihrer Proliferation und Funktion anregt.
  4. Die Barrierefunktion des Darms kann auch durch entzündliche Schädigung von Zellmembranen verschlechtert werden. Langkettige mehrfach ungesättigte Fettsäuren sind, wie wir gesehen haben, besonders anfällig für oxidative Veränderungen durch reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS– reactive oxygen species). Geschützt werden diese Membranfettsäuren durch das Selenoenzym GPX4 (Glutathionperoxidase 4). Menschen mit genetisch bedingt schwächerer GPX4-Funktion weisen nicht nur eine veränderte Darmmikrobiota sondern auch eine verstärkte Neigung zu Darmentzündung über diesen Mechanismus auf, wenn auch die genauen Zusammenhänge erst erforscht werden müssen. Für diese Patienten ist es also ratsam, den Konsum von PUFA zu reduzieren.

Zusammengefasst wurden mehr als 250 mit der Erkrankung assoziierte polymorphe Loci identifiziert, von denen einige die Gemeinsamkeit haben, dass sie das Eindringen vermehrten bakteriellen Materials in die Darmwand plausibel erscheinen lassen, andere, dass sie überschießende Reaktionen des Abwehrsystems begünstigen.

Zellen des adaptiven Immunsystems reagieren auf dieses bakterielle Material. Dendritische Zellen aktivieren naive T-Zellen zu TH1 und TH17-Zellen. TH17-Zellen verstärken frühe nicht-adaptive Abwehrmechanismen, z. B. die Rekrutierung von neutrophilen Granulozyten. Granulozyteninfiltrate mit Kryptenabszessen sind typisch für IBD. Makrophagen werden sowohl durch PAMPs direkt, als auch durch TH1-Zellen via IFNγ aktiviert. Durch Makrophagen und TH1-Zellen sezerniertes TNFα trägt durch Induktion von Proteasen zur Gewebsdestruktion bei, und die Proteasen schädigen ihrerseits die tight junctions des Epithels. In einem Circulus vitiosus verstärken also unspezifische und adaptive Abwehrmechanismen die Durchlässigkeit des Darmepithels.

Pharmakologische Querverstrebung: Anti-TNFα-Therapie hat einen positiven Effekt bei fistelbildendem Morbus Crohn. Ustekinumab, ein Antikörper gegen IL‑12 und IL‑23, ist gegen beide Erkrankungen zugelassen.

Umweltfaktoren haben ebenfalls einen Einfluss. In einer Parallele zur Allergie weisen Populationen, die bestimmten Infektionen weniger ausgesetzt sind, eine höhere Morbidität durch IBD auf. Die Hygienehypothese postuliert eine Notwendigkeit für Infektionen zur Etablierung eines normalen Toleranzniveaus. Es gibt Tiermodelle, bei denen Wurminfektionen die Entstehung von IBD verhindern oder das Krankheitsbild abschwächen. Passend zu dieser Hypothese steigt die Häufigkeit von IBD weltweit an, mit der höchsten Prävalenz in Europa, Nordamerika und Australien.

Überschießende Immunreaktionen zeigen sich auch in extra-intestinalen Manifestationen, wie z. B. Erythema nodosum, Polyarthritis migrans, Sacroileitis, Morbus Bechterew, Uveitis oder Cholangitis.

Die Krankheitserscheinungen sind abhängig von Lokalisation und Intensität und sehr variabel. Morbus Crohn beginnt häufig mit mäßigem Durchfall, Bauchschmerzen und Fieber und kann so eine Appendizitis vortäuschen. Colitis ulcerosa, die Rektum und anschließende Teile des Colons befällt, beginnt oft mit Krämpfen im Unterbauch und blutig-schleimigen Durchfällen. Beide Erkrankungen tendieren dazu, in jungen Jahren zu beginnen und zeigen einen chronischen, durch wiederkehrende Episoden gekennzeichneten Krankheitsverlauf.

 

19.  PATHOPHYSIOLOGIE DER LEBER

Obwohl sich der menschliche Organismus von der Außenwelt durch deutliche Grenzen absetzt, ist natürlich ein Stoffaustausch mit der Umwelt unabdingbar. Dieser birgt erhebliche Risiken: einerseits können sorgsam regulierte Gleichgewichtszustände ("Homöostasen") durcheinander geraten, andererseits können toxische Substanzen in den Körper gelangen. Der zur Vermeidung solcher Störungen zuständige "Manager" ist die Leber.

 

Um ausreichend Nahrungsstoffe aufnehmen zu können, wird eine große Austauschfläche –die Darmoberfläche—benötigt. Eine sofortige Bearbeitung und Kontrolle der aufgenommenen Stoffe beim Durchtritt durch das Darmepithel wäre wohl "technisch" zu aufwendig. Diese erfolgt also später, nachdem das von dieser riesigen Austauschfläche stammende Blut wieder gesammelt wurde und durch die Enge "Pforte" der Leber geschleust wurde. Es werden also zwei Kapillarsysteme in einem Niederdrucksystem hintereinander geschaltet. In der Leber müssen erneut große Mengen von Molekülen zwischen Blut und Hepatozyten ausgetauscht werden. Das wird erleichtert durch eine Strömungsverlangsamung durch die breiten Lebersinusoide und durch die Fenestrierung des Leberendothels, die dem Blutplasma direkten Zugang in den dahinterliegenden Disse´schen Raum erlaubt, in den die Transporter-Protein-besetzten Mikrovilli der Hepatozyten ragen. Im Disse´schen Raum befinden sich außerdem spezialisierte Perizyten, die Sternzellen (hepatic stellate cells) oder Ito-Zellen, welche Vitamin A speichern und Bestandteile der extrazellulären Matrix synthetisieren können. Diese ist bei einer gesunden Leber sehr zart ausgebildet, um die Diffusionswege zu minimieren. In direktem Kontakt mit dem Blut, also innerhalb der Sinusoide, sitzen zwei Zellarten der unspezifischen Abwehr: eine große Zahl von Makrophagen, die Kupffer-Zellen, sowie NK-(natural killer) Zellen, die sogenannten Pit-Zellen.

 

Aus der Rolle der Leber in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt ergibt sich auch die Notwendigkeit, Moleküle zurück in den Darm zu schicken. Dies wird durch das Gallengangssystem inklusive Gallenblase erreicht. Die kleinsten Verästelungen der Gallengänge beginnen als Spalträume zwischen benachbarten Leberzellen und werden nur durch deren Zellmembran begrenzt. Diese Canaliculi bilden ein dreidimensionales polygonales Netzwerk mit zahlreichen Anastomosen. Erst die größeren Ductuli haben ein eigenes Epithel.

 

Welche Bedeutung das Funktionieren der Leber für den Organismus hat, zeigt sich bei einem plötzlichen Ausfall der Leberfunktion z. B. in Folge einer Knollenblätterpilz-(Amanita phalloides)-Vergiftung. Das Hauptgift, Amanitin, ein zyklisches Peptid aus 8 Aminosäuren, dessen Struktur so stabil ist, dass sie durch Kochen nicht verändert wird, bindet an die 140 kDa-Untereinheit der RNA-Polymerase II.  Die so blockierte Genexpression führt zur Nekrose der Hepatozyten und kann innerhalb von 48-72 Stunden zum Tod des Patienten führen.

 

Im Folgenden werden die Funktionen der Leber kurz besprochen, woraus sich die klinischen Folgen von Funktionsstörungen meist ableiten lassen.

 

Funktion: Energiestoffwechselhomöostase
Störung: Schwäche, Fettstoffwechselstörungen, nicht-alkoholische Fettlebererkrankung, Insulinresistenz, metabolisches Syndrom

Zeiten der Nahrungsaufnahme (Resorptionsphase) wechseln ab mit Zeiten ohne Energieträgerangebot aus dem Darm (Postresorptionsphase), eventuell sogar mit Hungerphasen. Die Leber hat wichtige Pufferfunktionen zur Erhaltung eines konstanten  Energieträgerangebots im Blut.

In der Resorptionsphase wird viel Glucose über den Darm aufgenommen, die Gluconeogenese wird daher gehemmt: Insulin bewirkt in Hepatozyten eine Phosphorylierung und den Abbau des Transkriptionsfaktors Foxo1. Foxo1 treibt sonst die Transkription von Enzymen der Gluconeogenese (PEPCK, Glucose-6-Phosphatase). Ein Teil der im Darm resorbierten Glucose wird mit Hilfe des insulinunabhängigen Transporters GLUT2 (KM 15-20 mM) in die Hepatozyten transportiert. Glucose kann als solche nicht gespeichert werden, doch kann die Leber –wie auch die Skelettmuskeln—Glucose zu Glykogen polymerisieren. Glykogen kann bis zu 10% des Lebergewichts ausmachen (100-120g). Die Menge an Energie, die in dieser Form gespeichert werden kann, ist jedoch sehr begrenzt: die vielen Hydroxylgruppen der Glucoseeinheiten wirken stark hydrophil: 1g Glykogen bindet 2.7 g Wasser. Diese Form der Energiespeicherung nimmt zu viel Volumen und Gewicht in Anspruch, um effizient zu sein. Überschüssige Glucose wird deshalb in der Leber über Acetyl-CoA zu Fettsäuren umgebaut; diese werden mit Glycerol zu Triglyceriden vereinigt und in Form von VLDL (very low density lipoprotein)-Partikeln großteils an das Blut abgegeben. Werden allerdings Kohlenhydrate mit der Nahrung über die Zeit zu häufig oder in zu großen Mengen zugeführt, steigt die Konzentration von freien Fettsäuren und Fetten in den Hepatozyten so weit an, dass es zu Funktionseinschränkungen, beginnend mit Insulinresistenz kommt (NAFLD, non alcoholic fatty liver disease). Die dritte Aufgabe der Leber in der Resorptionsphase ist die Aufnahme von Chylomikronenremnants, die Bearbeitung der in ihnen enthaltenen komplexen Lipide, darunter z. B. fettlösliche Vitamine oder Fremdstoffe, sowie die Wiederabgabe behandelter Lipide in der Form von VLDL. Aufgenommene Fette sind ja das einzige Segment der Nahrung, das die Leber zunächst umgeht. Das Darmepithel formt diese zu Chylomikronen um und setzt diese in den extrazellulären Raum frei, von wo sie mit der Gewebslymphe in die Lymphbahnen  gespült werden. Von dort gelangen sie im Venenwinkel ins Blut. Die Triglyzeride werden mit Hilfe der Lipoproteinlipase auf der Endothelmembran von Muskel- und Fettgewebe aus den Chylomikronen geholt; erst die Remnants werden von der Leber aufgenommen.

In der Postresorptionsphase werden unter Kontrolle von erniedrigtem Insulin und Leptin sowie erhöhtem Glucagon und Sympathikotonus die Energiespeicher angezapft, um einen kontinuierlichen Energieträgerspiegel im Blut sicherzustellen. Fettsäuren aus Depotfett sind in großen Mengen verfügbar, doch nicht alle Zellen sind in der Lage, diese zu verstoffwechseln. Für manche Gewebe (ZNS, Erythrozyten, Nierenmark) ist Glucose unentbehrlich. Das Muskelglykogen steht dafür nicht zur Verfügung, es kann nur im Muskel selbst, z. B. zu Laktat, verbraucht werden. Im Blut wird ein langsam sinkender Glucosespiegel zunächst hauptsächlich durch Glykogenolyse, Abbau des Leber-Glykogens aufrechterhalten.

Parallel steigt die Gluconeogenese, die Neusynthese von Glucose aus Laktat, Glycerol und Aminosäuren. Dies wird über zwei Wege reguliert:

  1. Der sinkende Insulinspiegel enthemmt in den Hepatozyten die Foxo1-abhängige Transkription von Enzymen der Gluconeogenese.
  2. Sinkender Blutzucker- und Insulinspiegel hemmen in Fettzellen die Ausschüttung von Leptin. Das ZNS reagiert auf diesen Leptinrückgang mit einer Aktivierung der "Stress-Achse" CRH-ACTH-Cortisol (typischer Höchstwert von Cortisol in den frühen Morgenstunden nach der Nahrungskarenz über Nacht). Cortisol wirft in Zusammenarbeit mit dem nun niedrigen Insulinspiegel die Lipolyse im Fettgewebe an. Aus den Fettzellen mobilisierte freie Fettsäuren (non-esterified fatty acids, NEFA) und Glycerol steigen im Blut an und erreichen die Leber. Hepatozyten bauen diese Fettsäuren zu Acetyl-CoA ab; Acetyl-CoA aktiviert allosterisch das Enzym Pyruvatcarboxylase, das die erste Reaktion der Gluconeogenese (zu Oxalazetat) katalysiert. Die Lipolyse im Fettgewebe bewirkt so über einen erhöhten Umsatz der Leber-Pyruvatcarboxylase eine verstärkte Gluconeogenese.

Das dazu benötigte Ausgangsmaterial stellen neben begrenztem Glycerol und Laktat vor allem Aminosäuren dar, die Cortisol aus Muskeln und Knochen mobilisiert. Aus Muskeln und Knochen? Aber die brauchen wir doch!? Pfff..., wir haben solche Unmengen von Protein in Muskeln und Knochen, dass wir kurzzeitig problemlos diesen winzigen Bruchteil für die Gluconeogenese "ausleihen" können. Durch gefinkelten Aminosäuremetabolismus in der Muskelzelle liefern die Muskeln als Standardenergieträger hauptsächlich Alanin an die Leber.

Behalten wir im Gedächtnis, dass für beide Wege ein sehr niedriger Insulinspiegel notwendig ist. Steigt der Insulinspiegel geringfügig, senkt das die Gluconeogeneserate. Machen wir uns ebenfalls noch einmal bewusst, dass Insulin die Lipolyse blockiert. Wenn wir also abends vor der Glotze noch eine Süßigkeit schnabulieren oder nachts hungrig den Kühlschrank ansteuern, verhindern wir die für diese Zeit vorgesehene Lipolyse; wir aktivieren wieder die Resorptionsphase und synthetisieren Fett, statt es abzubauen.

 

Pharmakologische Querverstrebung: Pharmakologische Dosen von Glucocorticoidenbewirken einerseits eine starke Erhöhung des Blutzuckers – Ankurbelung der Gluconeogenese – und wirken andererseits peripher katabol – als Material für die Gluconeogenese benötigen wir ja Aminosäuren, die wir aus Knochen und Muskel entnehmen –, sodass bei längerer Therapiedauer Osteoporose und Verlust an Muskelmasse auftritt.

 

Hungerphase. Dauert die Phase ohne Nahrungszufuhr oder mit zu geringer Nahrungszufuhr länger als einen Tag an, ist das Leberglykogen verbraucht. Zusätzlich geht die Anlieferung von Alanin aus dem Muskel und damit die Gluconeogeneserate zurück: Der Blutzucker sinkt von etwa 90 auf etwa 70 mg/dl. Wie diese Regulation erfolgt, ist noch nicht ausreichend klar, sie wird jedenfalls vom ZNS organisiert. Es halbiert sich der Leptinspiegel, TSH geht noch stärker zurück, mit dem dadurch reduzierten Schilddrüsenhormon reduziert sich auch der Gesamtenergieverbrauch: so wird z. B. die mitochondriale Energieerzeugung der Leber auf Sparflamme gesetzt. Man beginnt zu frieren, die Durchblutung der Haut nimmt ab, besonders Hände und Füße fühlen sich eiskalt an. Das reduziert Wärmeverluste nach außen und spart damit ATP-Heizkosten ein. Auch der Energieverbrauch des Herzens wird in Ruhe reduziert: das Herz schlägt etwas langsamer, der Blutdruck sinkt etwas ab. Während sich der Körper in der Postresorptionsphase kurzfristig ebenso hemmungs- wie gefahrlos an den Muskeln bedienen konnte, muss er nun seine Strategie umstellen: Die Muskeln kann er nicht längerfristig kannibalisieren, da sie weiter zur Nahrungssuche etc. benötigt werden.

 

Gleichzeitig stellt die Leber aus den immer stärker anflutenden Fettsäuren zusätzlich so genannte Ketonkörper, β-Hydroxybutyrat und Azetoazetat, her. Das geschieht dadurch, dass die Leber mehr angelieferte Fettsäuren durch β-Oxidation abzubauen beginnt, als sie via Acetyl-CoA über den Zitratzyklus vollständig verstoffwechseln kann. Um das Acetyl-CoA in den Zitratzyklus einzubringen und zu "verbrennen", ist nämlich Oxalazetat notwendig ("fats burn in the flame of carbohydrates"), das nun auch für Gluconeogenese verbraucht und damit limitierend wird. Jeweils zwei der in Stau stehenden Acetyl-CoA werden zusammengehängt (4 Kohlenstoffe), von CoA abgehängt und hauptsächlich in Form von β‑Hydroxybutyrat, zu einem kleineren Teil als Azetoazetat ins Blut abgegeben.  Die beiden sind mittelstarke Säuren, geben also Protonen ab, es entsteht eine ketoazidotische Stoffwechsellage. Dabei übernimmt die Nierenrinde bis zu einem Drittel der nun reduzierten Gluconeogenese: Erinnern wir uns, dass der proximale Tubulus Säureausscheidung in Form von NH4+ mit Gluconeogenese verbindet. Herz und Nierenrinde verbrennen ohnehin gerne Ketonkörper; Großenergieverbraucher ZNS, das mit Fettsäuren nichts anfangen kann, kann sich nach einiger Zeit daran gewöhnen und verstoffwechselt dann bevorzugt Ketonkörper (bis zu 75% des Energiebedarfs) neben Glucose. Angesichts des Energiehungers unseres Gehirns kann so in längeren Hungerphasen viel Glucose eingespart werden. Ohne diese Umstellung würden in anhaltenden Hungerperioden die Muskeln viel zu rasch abgebaut werden: der Proteinverbrauch fällt von ca. 75g pro Tag auf 20g. Die Ketose ist also im Grunde ein Trick, um das ZNS von den Fettspeichern zu ernähren: das Fettgewebe setzt Fettsäuren frei, die von der Leber zu Ketonkörpern umgebaut werden, die ihrerseits zur Hauptnahrung des ZNS werden. Gleichzeitig entsteht durch die erhöhten Fettsäurekonzentrationen Resistenz gegen das ohnehin schon sehr niedrige Insulin in den typischen von Insulin gesteuerten Geweben Muskel, Fettgewebe, Leber, sodass von der ohnehin nur mehr spärlich produzierten Glucose ein größerer Anteil für ZNS, Erys und Nierenmark übrig bleibt.

 

Möglicherweise ist also die durch erhöhte Konzentration freier Fettsäuren ausgelöste Insulinresistenz, die wir lange als ausschließlich pathologisches Phänomen betrachtet haben, ein physiologischer Bestandteil eines Notfallprogramms, das unseren Vorfahren ermöglicht hat, lange Hungerphasen mit sehr niedrigen Blutzuckerspiegeln zu überleben. Anhaltender Nahrungsüberfluss ist in der menschlichen Evolution bisher nicht aufgetreten. Heute wird uns dieser Mechanismus zum Verhängnis. Bei starkem Übergewicht mit metabolischem Syndrom haben wir zwar die gegenteilige Ernährungslage – üppig statt karg –, jedoch ebenso eine erhöhte Konzentration freier Fettsäuren, die nun zu Insulinresistenz bei sehr hohen Blutzuckerspiegeln führt.

 

Ernährung: besser Kohlenhydrate oder besser Fett?

 

Ketogene Diät.Der Proteinanteil in der Ernährung der meisten Menschen bewegt sich im Bereich 10-35 %. Den Rest können wir zwischen Kohlenhydraten und Fett verteilen. Die gebrächliche Empfehlung lautet 45-65 % Kohlenhydrate, 20-35 % Fett. Eine ketogene low carb Ernährungsweise reduziert den Kohlenhydratanteil extrem zugunsten des Fettanteils. Damit wird die Hungerphase in manchen Aspekten imitiert. Durch die stark reduzierte Insulinausschüttung kann diese Ernährungsart in Verbindung mit Kalorienreduktion helfen, das Gewicht langsam zu reduzieren. Nach einer Übergangsphase, in der viel Wasser verloren wird (da die Glykogenvorräte abgebaut werden; sieht auf der Waage super aus: "Wow, endlich eine funktionierende Diät, ich habe schon 2 kg abgenommen!"), kann sich der Körper erstaunlich gut auf diese Ernährungslage einstellen. Manche Populationen, wie die Inuit, haben sich mangels Kohlenhydraten systematisch so ernährt. Für eine kurz- bis mittelfristige Zeit kann eine solche Diät helfen, das Gewicht zu reduzieren. Wie sieht es langfristig aus?

 

Langfristige ketogene Ernährung? Leider ist die Datenlage zur Frage, wie gesund oder ungesund unterschiedliche Verteilungen der Energieträger Kohlenhydrate, Fett und Protein sind, sehr unzureichend. Im Idealfall wünschen wir uns randomisierte kontrollierte Studien über dreißig und mehr Jahre mit zigtausend Teilnehmer:innen, in denen die Menschen sich ständig, genau dokumentiert und kontrolliert an eine vorgegebene Verteilung der Makronährstoffe halten, natürlich unter Einhaltung aller Erfordernisse für Mikronährstoffe (Mineralstoffe, Vitamine, Spurenelemente). Das alles gekoppelt mit minutiöser Dokumentation der Entwicklung ihrer Gesundheit. Abgesehen davon, dass das nicht möglich ist: Würden Sie bei so einer Studie mitmachen? Dreißig Jahre keine Süßigkeiten, weil Sie in die Ketogruppe randomisiert wurden? Es gibt aus diesem Grund sehr wenige Studien, die einigermaßen belastbare Daten zu unserer Frage bieten. In diesen Studien wurden die Teilnehmer:innen am Beginn, eventuell noch einmal später, zu ihren Ernährungsgewohnheiten per Fragebogen befragt. Dabei entstehen bereits reichlich Unschärfen. Diese Angaben wurden dann per Standardumrechnungen –wieviel kcal aus Kohlenhydraten, Fett und Protein enthält eine Portion Lauch? ein Marmeladebrot? eine Pizza? – in eine Makronährstoffverteilung umgerechnet. Dann nahm man an, dass sich diese Ernährungsgewohnheiten über die Studienjahre nicht wesentlich änderten. Sie sehen schon: diese Daten enthalten zahlreiche Ebenen der Unsicherheit. Die aussagekräftigsten Daten kommen meines Erachtens aus drei prospektiven Studien: PREDIMED (Spanien), PURE (18 Staaten mit dem Hauptgewicht in Asien und Südamerika) und ARIC (4 Einzugsgebiete in den USA):

  1. PREDIMED ist die einzige randomisierte interventionelle Studie von den dreien. Drei Gruppen von Probanden mit kardiovaskulärem Risiko wurden verglichen: basierend auf mediterraner Kost wurde die erste ermutigt, vermehrt kaltgepresstes Olivenöl zusätzlich zu konsumieren; die zweite, täglich Nüsse (Mandeln, Hasel- und Walnüsse, reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren) zu ergänzen (Öl bzw. Nüsse wurden zur Verfügung gestellt). Die dritte Gruppe sollte sich bemühen, Fett etwas zu reduzieren – was automatisch eine Vermehrung der Kohlenhydrate bedeutet – und erhielt statt Öl/Nüssen kleine non-food Geschenke. Der zusammengesetzte Endpunkt beinhaltete Myokardinfarkt, Schlaganfall, Tod aus Herz-Kreislaufgründen. Ergebnis: die fettreduzierte Gruppe hatte ein klar erhöhtes Risiko gegenüber den beiden Gruppen, die vermehrt pflanzliche Fette konsumiert hatten.
  2. Die Hauptaussage von PURE:ein höherer Fettanteil in der Ernährung ist nicht, wie lange angenommen, mit erhöhter, sondern mit gesenkter Mortalität assoziiert. Allerdings gilt diese Aussage nur für den Kohlenhydrat-Spektrumsanteil "mittel" (niedrigstes Fünftel: 46 %) bis hoch (höchstes Fünftel: 77 %). Für diesen Spektrumsanteil ergab sich: je mehr Kohlenhydrate, desto höher die Mortalität.
  3. Nur die ARIC-Studie enthielt einen Anteil an Probanden, die weniger als 46 % Kohlenhydrate zuführten. Hier ergab sich eine U-förmige Mortalitätskurve mit einem Minimum bei einem Kohlenhydratanteil von 50-55%; darüber und darunter stieg die Mortalität. Die Probanden mit der niedrigsten Kohlenhydratzufuhr ernährten sich also in erster Linie von Fett. Das bedeutete in der Regel eine hohe Zufuhr von gesättigtem, tierischem Fett und eine deutliche Zunahme der Mortalität. Ein kleiner Teil ernährte sich vorwiegend von pflanzlichen – ungesättigten – Fetten und Proteinen. Dieser Teil zeigte eine erniedrigte Mortalität, doch ist der Anteil zu gering, als dass wir sichere Schlüsse ziehen könnten.

Was lernen wir daraus? Alle drei Studien sprechen gegen eine fettreduzierte Ernährung, wie sie jahrzehntelang als ideal gepriesen wurde. Über kohlenhydratreduzierte Ernährung geben PREDIMED und PURE keine Auskunft; ARIC findet ein Mortalitätsminimum bei 50-55 % Kohlenhydratanteil, darunter stieg die Mortalität wieder. Zu ketogener Ernährung haben wir bisher keine belastbaren Daten. So niedrige Kohlenhydratzufuhr, wie sie eine ketogene Ernährung erfordert, kommt auch in der ARIC-Studie nicht vor. Aus den ARIC-Daten kann man aber extrapolieren, dass ketogene Ernährung auf die Dauer wohl umso weniger gesund ist, wenn die Energiezufuhr hauptsächlich auf tierischen Fetten und Proteinen basiert. Eine Unsicherheit besteht bezüglich ketogener Ernährung auf pflanzlicher Basis. Wir können nicht ausschließen, dass eine solche gesund sein KÖNNTE, doch fehlen uns bisher die Daten. Sie ist aber praktisch nicht leicht zu bewerkstelligen (pure peanut butter, anyone? Tofuflößchen in Olivenöl?).

 

Ist das nicht ein Widerspruch zur Erwartung, dass sich auch beim Menschen eine langjährige Nahrungseinschränkung lebensverlängernd auswirkt? Ist es nicht auch eine ketogene Ernährung, wenn man sich jahrelang hypokalorisch ernährt? Nein: hypokalorisch ernähren ist nicht fasten. Ernährt man sich hypokalorisch, aber bezüglich Makronährstoffen ausgewogen, entsteht keine Ketose, da regelmäßig Kohlenhydrate aufgenommen werden und der Körper nicht auf vorwiegende Fettverbrennung umstellen muss.

 

Diabetes Mellitus Typ 1. Vor Insulin als Medikament eingesetzt werden konnte, war DM1 ein Todesurteil. Die Abwesenheit von Insulin induziert die ketoazidotische Hunger-Stoffwechsellage. Bei hohem Blutzucker starben die Kinder vor vollen Töpfen an "innerem Verhungern". Sie bauten so lange Muskeln und Substanz ab, bis das mit dem Leben nicht mehr vereinbar war.


Steuerung der Gluconeogenese: Betrachten wir diese noch einmal aus einem anderen Blickwinkel, um die Implikationen ganz klar zu machen. Wir tendieren dazu, das Hormon Insulin gedanklich nur in der Resorptionsphase anzusiedeln: die nach Nahrungsaufnahme hohen Glucosespiegel fördern seine Ausschüttung, und seine Wirkung auf Skelettmuskulatur und Fettgewebe hilft, die Glucose rasch in die Zellen zu schaufeln, indem GLUT4 (KM 5 mM) in die Plasmamembran bewegt wird. Insulin ist aber auch in der Postresorptionsphase, z. B. in der Nacht, von großer Bedeutung.

 

Unter dem niedrigen Glucosespiegel der Postresorptionsphase (80-100 mg/dl, entspricht 4,5-5,5 mM) werden kritische Gewebe, wie das ZNS, über GLUT1 und GLUT3 kontinuierlich mit Glucose versorgt. Mit ihrer KM von 1 mM arbeiten diese Transporter immer im Sättigungsbereich. In die β-Zellen der Pankreasinseln gelangt dagegen über die wesentlich höhere Schwelle des GLUT2 (KM 15-20 mM) nur wenig Glucose. Wird der Blutzuckerspiegel durch Gluconeogenese leicht erhöht, gelangt proportional etwas mehr Glucose in die β-Zellen, sodass auch etwas mehr Insulin ausgeschüttet wird. In den Inseln hemmt das Insulin die Glucagonausschüttung in den benachbarten α‑Zellen; weniger Glucagon und mehr Insulin gelangen über in die Pfortader ableitende Venolen zur Leber. Diese Insulinwirkung in Kombination mit der verringerten Glucagonwirkung limitiert die Gluconeogenese. Die Glucose-Neuproduktion wird damit dauernd durch eine Insulin-Feedbackschleife gedrosselt. 


Ohne diese Drosselung würde die Leber viel mehr Glucose durch Gluconeogenese erzeugen. Genau das geschieht beim Metabolischen Syndrom: hier zeigt die Leber Insulinresistenz und erzeugt mehr Glucose als notwendig. Das erklärt den erhöhten morgendlichen Nüchternzucker der Typ 2-Diabetiker, der sonst unlogisch wäre: warum sollte der Zucker erhöht sein, wenn die Person schon lange nichts mehr gegessen hat? Fazit: Die Leber hat eine enorme Kapazität für Gluconeogenese, die dauernd durch Insulin gedrosselt werden muss.

 

Pharmakologische Querverstrebung: Metformin hemmt die Gluconeogenese und ist damit das Basismedikament für Diabetes mellitus Typ 2. Im Lauf der Zeit wurden mehrere Mechanismen für diesen Effekt vorgeschlagen. Am überzeugendsten erscheint mir ein Effekt auf ein mitochondriales Redoxenzym, der dazu führt, dass im Zytosol des Hepatozyten mehr NADH und weniger NAD+ bereit steht. Dadurch kann weniger Laktat zu Pyruvat verwandelt und über die Pyruvatcarboxylase in die Gluconeogenese eingeschleust werden. Das erklärt auch eine Tendenz zu Laktatazidose als unerwünschte Nebenwirkung. Wie wir gleich sehen werden, beobachten wir diesen Effekt auch beim Abbau von Alkohol, wodurch die Kombination Metformin + Alkohol besonders problematisch ist.

 

Funktion: Aminosäuren-Stoffwechsel, Stickstoffausscheidung (Harnstoffsynthese).
Störung: Hepatische Enzephalopathie, Säure-Basen-Instabilität

Die Gluconeogenese aus Aminosäuren, die hauptsächlich aus dem Muskel stammen, löst das Problem der Glucoseversorgung in Hungerzeiten, hat aber mehrere Haken. Zunächst einmal bleibt, wenn man Aminosäuren zu Kohlehydraten umbaut, der Stickstoff der Aminogruppen übrig. Die einfachste Form, in der Stickstoff im Körper vorkommt, ist Ammoniak (NH3 bzw. Ammonium-Ion NH4+). Dieses wird allerdings nicht sehr effizient ausgeschieden und wirkt in höheren Konzentrationen toxisch, was sich als erstes im ZNS bemerkbar macht.

 

Die Stickstoffentsorgung beeinflusst auch den Säure-Basen-Haushalt in unserem Körper, über den wir uns schon im Zuge unserer Befassung mit der Niere Gedanken gemacht haben. Dort haben wir vorweggenommen, dass die für das Säure-Basengleichgewicht kritische Entscheidung, wieviel Stickstoff in der Form von Harnstoff und wieviel in der Form von NH4+ entsorgt wird, in der Leber erfolgt. Diese Regulation sehen wir uns nun näher an.

 

Wieder einmal sitzen wir beim Frühstück und stellen dabei pathophysiologische Überlegungen an. Proteine sind zwar gute Energielieferanten, doch ist neben der Stickstoffentsorgungsfrage auch die Säure-Basen-Situation komplizierter als bei Fetten und Kohlenhydraten. Fette und Kohlenhydrate (Butterbrot) bauen wir zu CO2 und Wasser ab; CO2 ist eine potentielle Säure, doch die atmen wir ab. 'Wie sieht das eigentlich bei Proteinen aus?', überlegen wir, während wir unser Frühstücksei genießen.

 

Die meisten Aminosäuren sind neutral: sie enthalten zwei gegensätzlich ionisierte Gruppen: eine Carboxyl- und eine Aminogruppe. Werden sie abgebaut, ensteht (netto, der tatsächliche Abbau ist natürlich viel komplizierter) also ebensoviel HCO3 wie NH4+. Eine typische Proteinaufnahme von 100 g/d führt zur Produktion von etwa 1000 mmol HCO3/Tag und 1000 mmol NH4+/Tag. Aus der Säure-Basenperspektive könnte NH4+ ein Proton abgeben, HCO3 eines aufnehmen. Beim Blut-pH von 7,4 gibt NH4+ mit seinem pKa von 9.2 sein Proton jedoch kaum ab. HCO3 jedoch nimmt gerne ein Proton auf, um dann als CO2 abgeatmet zu werden, sodass der Nettoprozess alkalisierend wirken würde.

 

Beinahe verschlucken wir uns an unserem Ei: Alarm! NH4+ ist toxisch; HCO3 wirkt alkalisch: wir müssen etwas tun! Vom Konzept her am einfachsten und logisch wäre es, die beiden zu einem "Müllmolekül" zu komprimieren. Bingo! Der Harnstoffzyklus macht genau das. Harnstoff ist, verglichen mit den beiden schwierigen Charakteren, ein außerordentlich verträgliches Molekül: wenig reaktiv, untoxisch, unverdächtig aus Säure-Basenperspektive, Stickstoff-verdichtend. Ein bisschen schwer auszuscheiden, doch da wird unserer Niere schon etwas einfallen.

 

Stickstoff-verdichtend? Ja, denn in Harnstoff kommen zwei NH2-Gruppen auf eine C=O‑Einheit. Hm, was ist dann mit unserem Säure-Basen-Gleichgewicht? Wenn wir aus NH4+ eine NH2-Gruppe machen, bleibt uns doch ein H+ übrig; na gut, dem HCO3 fehlt eines, das gleicht sich vielleicht aus, aber was ist mit dem zweiten NH4+? Dort bleibt auf jeden Fall ein Proton übrig! (Cave: Wenn wir nicht zugleich BiochemikerInnen werden wollen, begnügen wir uns damit. Technisch ist alles wie immer komplizierter; die zweite Aminogruppe stammt nicht direkt aus NH4+ sondern wird von Aspartat aus übertragen. Man kann nun versuchen, die Stöchiometrien von Reaktion zu Reaktion weiter zu verfolgen. Unterm Strich jedoch trifft die  Aussage zu: Protonen bleiben übrig.) Resultat: schon wieder beginnen sich unserer Nackenhaare zu sträuben! Alarm! Haben wir den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben? Soeben noch drohten wir zu alkalisieren, nun drohen wir zu versauern! Was sollen wir tun, auf Protein verzichten, nur noch Zucker und Fett essen? Schokolade-Diät?

 

Ahh- Entspannung: da fällt uns ein, dass unsere Niere Säure ja gut ausscheiden kann- praktischerweise sogar als NH4+. Nur müssen wir darauf achten, dass wir die Säureäquivalente in Form von NH4+ nicht direkt auf den Weg von der Leber an die Niere schicken: so viel NH4+ wäre toxisch. Wir benötigen also einen sicheren Säure-/Ammonium-Tankwagen: das ist Glutamin. Die Niere holt aus diesem Tankwagen wieder das NH4+ hervor und scheidet es aus. Jedes von der Niere ausgeschiedene NH4+ muss nicht mit HCO3 neutralisiert werden und spart damit HCO3.

In der Leber haben wir also zwei Möglichkeiten, mit NH4+ umzugehen:

1.      wir verwenden es, um das beim Aminosäureabbau entstehende HCO3 zu neutralisieren und stecken es in Harnstoff

2.      wir stecken es in den Glutamin-Tankwagen, um es in der Niere auszuscheiden

Option 1 verbraucht HCO3, Option 2 spart HCO3. Wenn es uns nun noch gelingt, das Verhältnis zwischen beiden Wegen intelligent zu steuern, entkommen wir den beiden Formen der Säure-Basen-Katastrophe, in die wir durch die Energiegewinnung aus Aminosäuren zu geraten drohen.

 

Und siehe da, das Verhältnis zwischen beiden Wegen wird in der Leber durch den pH gesteuert- intelligenter geht es nicht! Eine geringfügige Senkung des pH reduziert in der Leber die Harnstoffproduktion, aber steigert die Glutaminsynthese. Damit wird weniger HCO3 verbraucht und mehr gespart, und die sich anbahnende Azidose wird ausgeglichen. Umgekehrt hat ein Anstieg des pH die gegenteiligen Folgen.

 

[Kein Lernstoff- Exklusiv für unsere Biochemie-Aficionados:

 

Die Senkung der Harnstoffsynthese durch sinkenden pH erfolgt durch das Enzym Glutaminase. Glutaminase stellt in den Mitochondrien periportaler Zellen das NH4+ zur Verschmelzung mit HCO3 und einem Phosphat aus ATP zu Carbamoylphosphat zur Verfügung, das anschließend in den Harnstoffzyklus eingeschleust wird. Diese Leberglutaminase ist in ihrer Aktivität direkt pH-abhängig: niedrigerer pH → weniger Carbamoylphosphat → weniger Harnstoffsynthese pro Zeiteinheit.

 

Die Steigerung der Glutamin-Tankwagenfüllung erfolgt direkt und schlicht durch das Enzym Glutaminsynthase, das im umgekehrten Weg pH-gesteuert wird: niedrigerer pH mehr Glutamin, das auf die Reise zur Niere geschickt wird. Sinnvollerweise wird dieses Enzym hauptsächlich in Zellen in der Nähe der Zentralvene des Leberläppchens exprimiert: wenn das anfallende NH4+ in der Peripherie des Leberläppchens nicht zu Harnstoff verarbeitet wird, treibt es stromabwärts und muss, vor es die Leber verlässt, im Glutamin-Tankwagen nicht-toxisch transportfähig gemacht werden. ]

 

Funktion: "Filterung" von partikulärem Material
Störung: Erhöhte Infektanfälligkeit

Kupffer-Zellen sind eine Form von Makrophagen, die mehr als 80% der sessilen Makrophagen des retikuloendothelialen Systems darstellen. Sie sitzen im Inneren der Sinus und phagozytieren sehr effizient partikuläres Material aus der Pfortader und bauen es ab. Dadurch werden z. B. alternde Erythrozyten eliminiert, aber auch eingeschwemmte Bakterien inaktiviert. Kupffer-Zellen exprimieren ein breite Palette an Rezeptoren für PAMPs (pathogen–associated molecular patterns), mit deren Hilfe sie Bakterien erkennen, phagozytieren und inaktivieren. Sie stellen damit ein wesentliches Element der unspezifischen Abwehr gegen Infektionen aus dem Magen-Darm-Trakt dar (siehe Abschnitt über Makrophagen im Immunologie-Skript).

 

Funktion: Elimination unerwünschter, über den Darm aufgenommener Moleküle (Biotransformation, Cytochrom P450 Oxidasen).
Störung: Vergiftungserscheinungen, abhängig vom spezifischen Molekül.

Über die Darmschleimhaut werden auch viele Stoffe aufgenommen, die eine potentielle Gefahr für den Organismus darstellen. Gerade bei stark lipophilen Molekülen ist es für den Organismus gar nicht so einfach, solche Substanzen wieder loszuwerden. Die Leber hat dazu den Mechanismus der Biotransformation entwickelt, die in zwei Phasen abläuft: in einem ersten Schritt wird, meist durch das Cytochrom-P450-Enzymsystem, eine reaktive Gruppe wie -OH in das Molekül eingebracht, an die in einem zweiten Schritt eine hydrophile Verbindung (z. B. Glucuronsäure, Sulfat, Glutathion etc.) angehängt wird. Das Molekül wird dadurch in der Regel soweit wasserlöslich, dass es über die Galle oder sogar über die Niere ausgeschieden werden kann.

Cytochrom P450-Oxidasen enthalten Häm als eine prosthetische Gruppe, an dessen zentralem Eisen-Atom die eigentliche Redoxreaktion abläuft (der Name stammt von einem Absorptionsmaximum bei 450 nm, wenn CO daran gebunden ist; P-Pigment). Es gibt ca. 50 menschliche Gene für diesen Typ von Enzym, von denen viele in der Leber exprimiert werden. Sie werden nach Familien (Nummern), Subfamilien (Buchstaben) und Genen (Nummern) bezeichnet, z. B. CYP3A4, CYP2D6, CYP2C19, CYP2E1. Eine Reihe von Ursachen hat zur Folge, dass sich einzelne Individuen in ihrer Cytochrom P450-Enzymausstattung unterscheiden:

  1. Viele dieser Gene sind polymorph, das bedeutet, verschiedene Individuen haben leicht unterschiedliche Varianten eines solchen Gens und damit des kodierten Enzyms. Die Vielfalt an Genen und Polymorphismen erklärt sich wahrscheinlich aus einem daraus resultierenden Selektionsvorteil in der Menschheitsgeschichte in der Auseinandersetzung mit einer Vielfalt von Alkaloiden aus Nahrungspflanzen.
  2. Manche dieser Enzyme werden in Frauen und Männern unterschiedlich exprimiert, z. B. CYP2B13, CYP3A16 und CYP4A12 (Rinn et al., Dev. Cell 6: 791-800, 2004). So wird CYP3A16 nur in der weiblichen, aber nicht in der männlichen Leber exprimiert. Dies kann zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Metabolisierung von Medikamenten führen.
  3. Die meisten dieser Gene werden induziert, wenn das System wiederholt durch ein Substrat beansprucht wird, sodass das Expressionsniveau, abhängig von der individuellen Vorgeschichte, auch bei identer genetischer Situation unterschiedlich sein kann. Mechanismus? Nächster Absatz!
  4. Von manchen CYPs weiß man, dass sich ihr Expressionsniveau mit dem Lebensalter ändert. Säuglinge sind z. B. sehr empfindlich auf mit der Muttermilch aufgenommenes Koffein, da sie es selbst nicht abbauen können. Für mehr Ruhe wäre gestressten Müttern zu empfehlen, den Kaffeekonsum einmal versuchsweise zurückzuschrauben.

Enzyminduktion. Das Entgiftungssystem ist nicht starr, sondern in der Lage, sinnvoll auf Beanspruchungen zu reagieren. Wir nehmen häufig kleine Mengen von allerlei Giften auf, da wir uns in einer Welt bewegen, in der jeder versucht, seine Haut und seine ökologische Nische gegen andere zu verteidigen. Betrachten wir zwei Beispiele, die sich zwar nicht so leicht in unseren Magen verirren, aber für unser medizinisches Interesse relevant sind:

  • Die pazifische Eibe (Taxus brevifolia) schützt sich davor, als Futter benützt zu werden, indem sie eine Substanz synthetisiert, welche die Funktion von Mikrotubuli und damit der Zellteilungsspindel stört. Wir nennen dieses Gift Paclitaxel und verwenden es als Medikament in der Krebstherapie, z. B. gegen Brustkrebs.
  • Das im Erdboden lebende Bakterium Amycolatopsis rifamycinica hält sich dort Konkurrenz vom Leib, indem es eine Substanz synthetisiert, welche die Funktion der DNA-abhängigen RNA-Polymerase anderer Bakterien stört. Wir nennen diese Substanz Rifampicin und verwenden sie als Antibiotikum gegen bakterielle Infektionen, z. B. gegen Meningokokken oder Tuberkulose.
Beide Substanzen sind komplex aufgebaut und lipophil. Beide binden in Hepatozyten an ein Mitglied der Gruppe der Kernrezeptoren (nuclear receptors, Verwandte von Glucocorticoidrezeptor, Vitamin-D-Rezeptor etc.), die unsere Sensoren für lipophile Moleküle von innen und außen darstellen und die uns helfen, die Genexpression in den verschiedenen Geweben auf einen geänderten Bedarf hin zu modifizieren: sie binden an den Pregnan-X-Rezeptor (PXR). Der Rezeptor bindet daraufhin an response elements im Promotor für CYP3A4 und andere CYPs und induziert eine verstärkte Expression. Über den selben Mechanismus werden auch Koppelungsenzyme für den zweiten Schritt, z.B. Glutathion-S-Transferase, sowie Transporter für die Ausschleusung über die Membran in den Gallekanalikulus induziert. Beide Substanzen, Paclitaxel wie Rifampicin, werden durch CYP3A4 verstoffwechselt, sodass sie bald ihren eigenen Abbau beschleunigen, aber damit auch den Abbau von anderen Medikamenten beeinflussen. Auch Progesteron induziert die Proteine dieser Entsorgungskette via Bindung an den Pregnan-X-Rezeptor, sodass Schwangere Medikamente anders metabolisieren- etwas, das wir natürlich nicht testen können oder wollen. Ein analoger Weg zur Reaktion auf körperfremde ("Xenobiotika") oder körpereigene lipophile Substanzen verläuft über einen weiteren nukleären Rezeptor, den constitutive androstane receptor (CAR). Dieser bindet andere Liganden als der PXR und aktiviert eine andere Palette an Cytochrom P450-Oxidasen.

 

Einschub: Xenohormone (endocrine disruptors). Wir alle gemeinsam beteiligen uns zur Zeit an einem groß angelegten Nahrungsmittelexperiment: Wir nehmen Substanzen auf, mit denen die Menschheit bisher nie konfrontiert war. Nach der Paracelsus-Erkenntnis dosis facit venenum hoffen wir, dass, solange wir nur die Dosis klein halten, nichts passiert. In die Suppe spucken könnten uns dabei Substanzen, die in geringen Konzentrationen wirken, indem sie an hochaffine Rezeptoren binden. In Diskussion sind vor allem lipophile Substanzen, die leicht resorbiert werden, sich oft in Fettgewebe anreichern und an nuclear receptors binden. Wir exprimieren 48 verschiedene nuclear receptors; bei der Mehrzahl von ihnen ist der natürliche Ligand noch unbekannt. Da viele Kernrezeptoren in fast allen Körperzellen exprimiert werden und jeweils auf die Expression hunderter Gene wirken, ist eine Folgenabschätzung von theoretischer Seite unmöglich. Denkbar sind zeitliche Fenster besonderer Empfindlichkeit (z. B. Embryogenese) und epigenetische Effekte auf spätere Generationen. Einige Beispiele aus einer langen Liste von diskutierten Substanzen:

  • Bisphenol A (BPA) hat eine schwache Östrogenwirkung und weitere, unzureichend verstandene Wirkungen. Es wurde z.B. eine Zunahme von T-Helferzellen in der Milz beobachtet, die Auswirkungen auf die Häufigkeit von Allergien haben könnte. Es kommt in Kunststoff-Getränkeflaschen, der Auskleidung von Konserven- und Getränkedosen, Plastikspielzeug und kam bis 2011 in Babyflaschen, bis 2020 auf Thermopapier von Kassazetteln vor. Im Jahr 2023 empfahl die European Food Safety Administration aufgrund neuer Daten eine Reduktion des BPA-TDI (tolerable daily intake) um den Faktor 20.000 (von 4 Mikrogramm/kg Körpergewicht und Tag auf 0,2 Nanogramm).
  • Phthalate haben eine Östrogenwirkung. Sie werden als Weichmacher in PVC, auch in medizinischen Leitungen und Schläuchen, sowie in Kosmetika eingesetzt.
  • Atrazin verändert die ovarielle Hormonproduktion. Es wird in den USA verbreitet als Herbizid eingesetzt, in der EU ist es seit 2003 verboten.
  • Perfluorooctansäure (PFOA) bindet an Östrogenrezeptor und PPARα. PFOA wird wegen ihrer öl- und wasserabstoßenden Eigenschaften zur Herstellung vieler Kunststoffe verwendet, z. B. für Antihaftbeschichtung von Bratpfannen und für Outdoorbekleidung. Sie ist praktisch nicht abbaubar, reichert sich im Fettgewebe an und ist heute in beinahe jedem Individuum nachweisbar. In der EU ist sie seit 2020 verboten.
Es ist möglich, wenn auch mühsam, potentielle Risiken zu verringern, ohne dass man sich im Detail mit den Substanzen auseinandersetzen muss: Das Prinzip besteht darin, den Kontakt zwischen Lebensmitteln und Kunststoffen zu minimieren. Das gilt besonders, wenn sie erhitzt werden (Mikrowelle, Bratpfannen, Behälter für Fastfood,…). Keine Konserven. Kauft man Bio, verringert man zusätzlich potentielle Risiken durch Herbizide und Pestizide.

 

*

Das System der Biotransformation birgt auch Risiken in sich: eine an sich harmlose Substanz kann durch Biotransformation erst zu einem Toxin werden. Ein klassisches Beispiel dafür ist Aflatoxin B1. Aflatoxin stammt aus Aspergillus flavus, der schlecht gelagerte Erdnüsse, Pistazien, Mais etc. kontaminiert. Das vom Pilz produzierte Molekül ist zunächst inaktiv, wird mit der Nahrung aufgenommen und erst in der Leber durch das Cytochrom-P450-System zu einem hochreaktiven Metaboliten verändert, sodass es DNA-Addukte bildet und damit krebserregend wirkt.

Betrachten wir die Wirkung dieses Systems auf Medikamente etwas näher. Einerseits verlieren Medikamente durch Verstoffwechselung an Aktivität. Bei der Gabe vieler oraler Medikamente tritt der so genannte first pass effect auf: manche Medikamente werden so effizient von der Leber aus dem Pfortaderblut extrahiert und verstoffwechselt, dass es schwierig ist, auf diesem Weg ausreichende Plasmakonzentrationen zu erreichen.

Andererseits kann sich auch bei Medikamenten Toxizität durch Verstoffwechselung ergeben, die wieder durch den Abbau anderer Moleküle beeinflusst werden kann. Ein medizinisch relevantes Beispiel für eine solche Wechselwirkung stellt die Metabolisierung von Alkohol und Paracetamol dar.

1. Alkohol: Ethanol wird hauptsächlich durch das Enzym Alkoholdehydrogenase (ADH) zu Acetaldehyd oxidiert. Bei chronischem Alkoholkonsum wird außerdem CYP2E1 induziert, das denselben Effekt hat. Trotz kräftiger Induktion ist dessen Kapazität jedoch im Verhältnis zur ADH so gering, das es zu keiner substantiellen Steigerung der Alkohol-Abbaurate (0,11 bis 0,12 g/kg Körpergewicht und Stunde, d. h. ca. 0,1 ‰ pro Stunde) kommt. Acetaldehyd wirkt in den so erreichten Konzentrationen bereits zytotoxisch; es wird durch das Enzym Aldehyd-Dehydrogenase weiter zu Azetat oxidiert, anschließend zu Acetyl-CoA aktiviert. In beiden Oxidationsschritten entsteht NADH + H+. Die durch den Alkoholabbau entstehenden Produkte Acetyl-CoA und NADH werden über Zitratzyklus und Atmungskette zur Energiegewinnung eingesetzt; Überschüsse sind das ideale Ausgangsmaterial für die Fettsäuresynthese. Wenn wir Alkohol trinken, synthetisieren wir Fett, statt es abzubauen. Die Verstoffwechselung erklärt die beiden typischen Schädigungsformen durch Alkoholkonsum: alkoholische Hepatitis und Fettleber, die bei fortgesetztem Konsum beide in eine Zirrhose münden können. Ein Überschuss an NADH hemmt nicht nur die β-Oxidation von Fettsäuren. Wie wir bei Metformin gesehen haben, hemmt hohes NADH auch die Gluconeogenese, indem es die Oxidation von Laktat zu Pyruvat hemmt. Die NADH-Konzentration treibt die Reaktion sogar in die Gegenrichtung. Auf diese Weise kann ein Übermaß an Alkohol zu Hypoglykämie und Laktatazidose führen. Typ 2-Diabetiker, die am Vorabend Alkohol getrunken haben, wundern sich oft über ihre "guten" Blutzuckerwerte am folgenden Morgen.

Bei Menschen aus Südostasien kommen zwei Allele häufig vor, die zu einer raschen Akkumulation von Acetaldehyd nach Alkoholkonsum führen. Das ADH-Allel ADH1B*Arg47His führt zu einem rascheren Abbau von Ethanol zu Acetaldehyd, das Aldehyd-Dehydrogenase-Allel ALDH2*2- (Glu504Lys), zu einem verlangsamten Abbau von Acetaldehyd zu Azetat. In beiden Fällen führt Alkoholgenuss rasch zu einer unangenehmen flush-Symptomatik (Gesichtsrötung, Blutdruckabfall), Übelkeit und Kopfschmerzen. In Europa sind die genetischen Grundlagen des Alkoholabbaus sehr homogen.

Obwohl Frauen und Männer Alkohol, bezogen auf das Körpergewicht, in der Leber mit derselben Geschwindigkeit abbauen, ist der weibliche Organismus empfindlicher: Die Aufnahme derselben Menge Alkohol führt bei Frauen zu einer höheren Blutalkoholkonzentration. Das ist nicht nur auf ihr im Schnitt niedrigeres Gewicht zurückzuführen: Alkohol verteilt sich vorwiegend in der wässrigen Phase des Körpers, deren Anteil am Körpergewicht bei Frauen kleiner ist als bei Männern. Ein weiterer Unterschied liegt in einem ADH-Isoenzym, das in der Magenschleimhaut exprimiert wird und bei Frauen weniger aktiv ist. Da mindestens 20 % des getrunkenen Ethanols über die Magenschleimhaut aufgenommen wird, erreicht bei Frauen ein größerer Anteil dieser Fraktion das Blut als bei Männern. Statistisch findet man bei Frauen ab 20 g täglichen Alkoholkonsums einen Anstieg der Zirrhosehäufigkeit, bei Männern erst ab 40-50 g/Tag. Bereits 70-80 g/Tag führen auch bei Männern regelmäßig zur Leberzirrhose.

Die Angabe des Alkoholgehalts von Getränken erfolgt nicht in g, sondern in Volumenprozent (Bier um 5%, also 50 ml pro Liter; Wein um 12%, also 120 ml pro Liter). Da Alkohol leichter ist als Wasser, müssen die ermittelten ml noch mit der Dichte von Alkohol (ca. 0,8 g/ml) multipliziert werden, um die Alkoholmenge in g zu erhalten. 0,5 l Bier enthalten daher ca. 20 g Alkohol, 0,25 l Wein ca. 24 g- damit liegen Tagesmengen von 4 Bier oder einer Bouteille Wein auch bei Männern jenseits der Zirrhosegrenze.

Möchte man nach Alkoholaufnahme die Alkoholkonzentration im Blut schätzen, so kann man diese in einer ersten Annäherung nach Widmark berechnen: die Blutalkoholkonzentration ist gleich der Menge aufgenommenen Alkohols (in g) gebrochen durch das Produkt des Gewichts der Person (in kg) mal dem Anteil der wässrigen Phase (etwa 0,7 für Männer und 0,6 für Frauen). Dadurch bekommt man g Alkohol pro kg Verteilungsvolumen und damit eine Schätzung für die Blutalkoholkonzentration in Promille (g Alkohol pro 1000 g Blut). Diese Schätzung ist in der Regel 10-30% zu hoch, da ein Teil des Alkohols schon während der Schleimhautpassage verstoffwechselt oder noch während der Trink- und Resorptionsphase in der Leber verstoffwechselt oder wieder ausgeschieden wird (Urin, Atemluft). Alternative Berechnungsweisen beziehen zusätzliche individuelle Variablen wie das Verhältnis Körpergröße/ Körpergewicht und Alter mit ein und liefern genauere Resultate. Möchte man die Alkoholkonzentration einige Stunden nach Abschluss des Trinkens schätzen, zieht man vom Ausgangspromillewert die vorher erwähnten 0,11 bis 0,12 ‰ pro Stunde ab.

2. Paracetamol (im angelsächsischen Sprachraum als Acetaminophen bezeichnet):
Im therapeutischen Dosisbereich wird der Großteil des Paracetamols in der Leber direkt sulfatiert und glucuronidiert; nur geringe Mengen werden über CYP2E1 zu einem hochreaktiven elektrophilen Zwischenprodukt namens NAPQI (N-Azetyl-p-Benzo-Quinon-Imin) verstoffwechselt, das kovalent an zelluläre Makromoleküle binden und damit toxisch wirken könnte. Um reaktive Moleküle dieses Typs abzufangen, produziert jede Zelle eine gewisse Menge eines SH-tragenden Moleküls, Glutathion. Das Schwefelatom mit seinen freien Elektronenpaaren reagiert sehr effizient mit NAPQI und ähnlichen Molekülen; Glutathion stellt damit einen Schutzschild für die zellulären Makromoleküle dar.

Im toxischen Dosisbereich werden zunächst die Sulfatierungs- und Glucuronidierungssysteme überlastet, so dass nun der zu NAPQI verarbeitete Anteil des verstoffwechselten Paracetamols stark zunimmt. Dann wird das vorhandene Glutathion verbraucht; weiteres NAPQI wirkt ungehemmt toxisch. Wird CYP2E1 durch chronischen Alkoholgenuss oder Medikamente induziert, ist der zu NAPQI verarbeitete Anteil von vornherein größer; Paracetamol wirkt unter diesen Umständen schon in wesentlich niedrigerer Dosis (beschrieben wurden Fälle ab 5-6 Tabletten zu 500 mg pro Tag) toxisch.

Nach diesen Überlegungen wird das Problem für die Pharmakotherapie klar: wenn die wirksame Dosis und Toxizität vieler Medikamente durch CYPs beeinflusst wird, die CYP-Ausstattung einzelner Individuen aber verschieden ist, müssen viele Medikamente in verschiedenen Individuen verschieden wirken. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele. CYP2D6 ist wesentlich für den Abbau von Antidepressiva, Neuroleptika und mancher Betablocker, aber auch für die Aktivierung des Opiats Tramadol (Tramal®-Tropfen) zu seiner wirksamen Form. CYP2D6 kommt in vielen Allelvarianten vor: manche Individuen tragen defekte Allele, andere, besonders Menschen aus Äthiopien oder Saudi-Arabien, haben Allele mit mehreren 2D6-Kopien. Für Menschen mit hoher 2D6-Aktivität wirken daher die üblichen Dosen vieler Medikamente gegen Depression oder Schizophrenie nicht, da diese rasch abgebaut werden. Bei Menschen mit fehlender oder niedriger 2D6-Aktivität können dieselben Dosen von Psychopharmaka oder Betablockern toxisch wirken, dafür bleiben Tramadol-Tropfen unwirksam. Ein anderes Beispiel ist der Plättchenhemmer Clopidogrel, der erst durch CYP2C19 in seinen aktiven Metaboliten übergeführt wird. In 10-15% ist CYP2C19 auf Grund allelischer Varianten weniger aktiv, sodass keine ausreichende Plättchenhemmung zustande kommt.

Grundsätzlich ist es möglich, solche potentiell gefährdeten Patienten rechtzeitig zu erkennen, indem man die Gene dieser CYPs auf das Vorhandensein kritischer Polymorphismen überprüft. Ein erster, auf Oligonukleotid-DNA-Chip-Technologie beruhender diagnostischer Test wurde im Jahr 2004 eingeführt. Die immer effizienter werdenden DNA-Sequenzierungs-Verfahren sollten mit der Zeit die Bestimmung eines individuellen Cytochrom P450-Status erleichtern.

Die Möglichkeiten für Komplikationen werden noch dadurch gesteigert, dass sich auf diese genetischen Unterschiede der Cytochrom-P450-Oxidasen Effekte wie Enzym-Induktion, geschlechts- und altersbedingte Enzym-Aktivitätsunterschiede und kompetitive Hemmung bei der gleichzeitigen Einnahme mehrerer Medikamente oder spezifischer Nahrungsinhaltsstoffe aufpfropfen. So hemmen Naringenin und Bergamottin aus Grapefruitsaft CYP3A4 und weitere CYPs und erhöht dadurch die Bioverfügbarkeit zahlreicher Medikamente, z. B. von Statinen.

 

Funktion: Steroidhormon-Inaktivierung.
Störungen: Gynäkomastie, Hodenatrophie, weiblicher Behaarungstyp.

Das Prinzip, auszuscheidende lipophile Substanzen mit hydrophilen Verbindungen zu konjugieren, um sie wasserlöslicher zu machen, wird auch auf körpereigene Moleküle angewendet, wie z. B. auf Steroidhormone oder Bilirubin. Steroidhormone werden auf diese Weise inaktiviert und ausgeschieden.  Chronische Leberinsuffizienz führt beim Mann dazu, dass die in niedrigen Mengen gebildeten Östrogene nicht mehr inaktiviert und ausgeschieden, und damit angereichert werden.

 

Funktion: Bilirubin-Ausscheidung.
Störung: Ikterus.

Bilirubin ist ein Abbauprodukt von Porphyrinen. Es stammt überwiegend aus der Häm-Gruppe des Hämoglobins und zu einem kleinen Anteil aus der prosthetischen Gruppe von Enzymen der Atmungskette und anderen Enzymsystemen wie z. B. dem Cytochrom-P450-System. Bilirubin wirkt in höheren Konzentrationen toxisch und muss daher vom Körper effizient eliminiert werden. Bilirubin wird über mehrere Transportsysteme in die Hepatozyten aufgenommen, sodass bei diesem Schritt selten Störungen auftreten: organic anion transporter proteins (OATP, in erster Linie OATP1B1, Genname SLCO1B1). Das Enzym UDP-Glucuronyltransferase (UGT) konjugiert Bilirubin mit Glucuronsäure; das konjugierte Bilirubin wird unter ATP-Verbrauch durch den canalicular multispecific organic anion transporter (cMOAT, auch MRP2= mdr related protein 2 genannt, sytematische Bezeichnung ABCC2) in den Gallecanaliculus gepumpt. Bei einer nach der UGT lokalisierten Transportstörung steigt neben dem unkonjugierten Bilirubin auch das konjugierte an, das auch im Urin nachweisbar wird.

Genetisch bedingte Störungen in diesem System sind Gilbert-Meulengracht- (sehr häufig und harmlos, schwächere Funktion des UGT-Promotors), Crigler-Najjar I- und II- (Funktionseinschränkungen unterschiedlicher Intensität der UGT) sowie Dubin-Johnson- (Defekt in cMOAT) und Rotor-Syndrom (äußerst selten; kombinierte Störung zweier OATP, welche die Wiederaufnahme von "entkommenem" konjugiertem Bilirubin aus dem Blut in die Zelle vermitteln).


Funktion: Cholesterin-Ausscheidung.
Störung: Hypercholesterinämie, Dyslipoproteinämien

Cholesterin kann vom Körper synthetisiert, nicht aber wieder abgebaut werden. Es muss also ausgeschieden werden. Dies geschieht in zwei Formen: Cholesterin wird einerseits zu Gallensäuren umgewandelt und andererseits direkt ausgeschieden. 30-60% des in die Galle sezernierten Cholesterins werden im Darm rückresorbiert; der Rest wird ausgeschieden. Bei Cholestase kann ein cholesterinreiches atypisches Lipoprotein entstehen, das Lipoprotein X.

 

Funktion: (Gallesekretion - in Klammer: Mittel, kein Ziel).
Störung: Cholestase, Cholelithiasis.

Ein Sistieren des Galleflusses wird unabhängig von der Ursache als Cholestase bezeichnet. Durch die komplexe Zusammensetzung und die für einzelne Komponenten unterschiedlichen Transportsysteme der Galle wird der Begriff Cholestase sowohl für Situationen verwendet, bei denen alle Komponenten der Galle betroffen sind, als auch für Transportstörungen, die hauptsächlich Gallensäuren betreffen. Leitsymptom ist der durch den Anstieg der Gallensäuren ausgelöste Juckreiz.

Gallensäuren werden in Hepatozyten aus Cholesterol synthetisiert, indem Hydroxylgruppen an Position 7 und 12 eingeführt werden und die Cholesterolseitenkette verkürzt und mit einer COOH-Gruppe versehen wird. Die Produktionsrate wird über eine negative Rückkoppelung gesteuert: das geschwindigkeitsbestimmende Enzym, die 7α-Hydroxylase, wird weniger stark exprimiert, wenn genügend Gallensäuren vorhanden sind. Gallensäuren im Hepatozyten binden an den Farnesoid-X-Rezeptor (FXR), ein weiteres Mitglied der Kernrezeptorfamilie, der die Expression des 7α-Hydroxylase-Gens (CYP7A1) unterdrückt. Die neu synthetisierten primären Gallensäuren Cholsäure und Chenodesoxycholsäure werden häufig konjugiert; dafür kommen Taurin, Glycin, Sulfat oder Glucuronat in Frage. Im Darm entfernen Bakterien die 7α-Hydroxylgruppe zum Teil wieder, sodass die sekundären Gallensäuren Desoxycholsäure und Lithocholsäure entstehen. Unkonjugierte Gallensäuren sind sehr schwache Säuren; konjugierte Gallensäuren haben niedrigere pKa und liegen großteils ionisiert als "Gallensalze" vor. Gallensäuren unterliegen einem enterohepatischen Kreislauf: der gesamte Pool aus Gallensalzen und –Säuren wird 5-10 mal am Tag umgewälzt. Durch den enterohepatischen Kreislauf werden auf beiden Seiten des Hepatozyten leistungsfähige Transportsysteme benötigt, die durch die beschriebene Vielfalt der Gallensäuren nicht sehr spezifisch sein können und dadurch auch viele andere Moleküle, z. B. Medikamente, transportieren. Aus dem Pfortaderblut geschieht der Transport hauptsächlich über ein Na+-getriebenes Na‑taurocholate cotransporting polypeptide (NTCP, SLC10A1). Zusätzlich schleust eine Familie von organic anion transport proteins  (OATPs, kodiert durch die Gene SLCO1A2, SLCO1B1 und SLCO1B3) ionisierte Gallensalze ein (OATPs schleusen auch das Knollenblätterpilzgift Amanitin in Hepatozyten ein). Gallensäuren in protonierter Form gelangen auch durch non-ionic diffusion in die Hepatozyten. Im Hepatozyten werden Gallensäuren an Proteine gebunden und transportiert. Die Sekretion in den Canaliculus erfolgt unter ATP-Verbrauch hauptsächlich durch die bile salt export pump (BSEP, ABCB11) gegen einen 100- bis 1000-fachen Konzentrationsgradienten; auch cMOAT wird für sulfatierte und glucuronidierte Gallensäuren verwendet. Steigt die Gallensäurenkonzentration im Hepatozyten an, wird über den Farnesoid-X-Rezeptor auch BSEP induziert, sodass mehr Gallensäuren sezerniert werden. Defektallele der BSEP führen zu familiären Cholestasen unterschiedlicher Intensität.

Pharmakologische Querverstrebung: OATP1B1 (Gen: SLCO1B1) transportiert auch Statine aus dem Blut in die Hepatozyten, wo diese einerseits wirken, andererseits metabolisiert und ausgeschieden werden. Ein häufiges – 18-28 % heterozygot, 2-3 % homozygot bei europäischem genetischem Hintergrund – Allel, T521C mit dem Aminosäureaustausch Valin 174 zu Alanin, zeigt eine stark verminderte Transportrate für Statine, sodass die Statin-Plasmakonzentration bei diesen Individuen erhöht ist, was mit einem erhöhten Risiko für Myopathie einhergeht. Dieser Effekt ist nicht für alle Statine gleich; für Simvastatin ist er stärker ausgeprägt als für andere. Andere Medikamente, welche über OATP1B1 aufgenommen werden, verstärken diesen Effekt; dazu gehören Amiodaron und Cyclosporin.

Zusätzlich zu den damit verbundenen Störungen wie Gallensäurenanstieg (Juckreiz), Störung der Fettverdauung, Cholesterinanstieg, Ikterus etc. wirkt eine Cholestase auch negativ auf die Leberzellen zurück. Gallensäuren sind an sich schon relativ toxische Moleküle. Durch den Anstieg ihrer Konzentration in den Hepatozyten entstehen auch atypische, fetale Gallensäuren, die noch toxischer wirken und die Cholestase verstärken. Cholestase kann viele Ursachen haben: sie ist eine logische Begleiterscheinung einer schweren Hepatitis, kann relativ isoliert als Nebenwirkung vieler Medikamente auftreten (z. B. durch kompetitive Hemmung der BSEP durch Steroide, Ciclosporin A, Rifampicin) oder kann rein mechanisch durch Gallensteine oder Tumoren bedingt sein.

Die Entstehung von Gallensteinen ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Gallenflüssigkeit an sich bereits einen heiklen Balanceakt zwischen lipophilen Substanzen und ihrem wässrigen Transportmedium darstellt. Typische Größenordnungen der nichtwässrigen Gallebestandteile wären etwa 67% Gallensäuren/-salze und 22% Phospholipide, die benötigt werden, um 4% Cholesterin und Bruchteile eines Prozents Bilirubin-Diglucuronid in Lösung zu halten. Überschreiten die lipophilen Substanzen Cholesterin oder Bilirubin einen gewissen Schwellenwert, sind Gallensäuren und Phospholipide nicht mehr in der Lage, sie in Mizellenform zu halten. Kleine Kristalle können noch in den Darm transportiert werden; gefährlich sind etwas größere Konglomerate, die in den Engstellen stecken bleiben. Große Gallensteine können die Gallenblase vollständig ausfüllen ohne Krankheitserscheinungen auszulösen. Am häufigsten sind Cholesterinsteine; steht Ca-Bilirubinat im Vordergrund, spricht man von Pigmentsteinen.

 

Funktion: Fettverdauung
Störung: Steatorrhoe, Vitaminmangel ADEK

Galle ist die "Seife", die zur Emulgierung von Nahrungsfetten notwendig ist. Die dabei aktiven Substanzen sind Gallensäuren und Phospholipide. Nahrungsfette sind zu über 90% Triglyzeride, die bei Körpertemperatur flüssig als relativ große Öltropfen vorliegen. Lipasen, die als Proteine eher wasserlöslich sind, können nur an der Wasser-Öl-Grenzfläche aktiv werden. Daher ist für eine effiziente Fettverdauung ein massive Vergrößerung dieser Wasser-Öl-Grenzfläche nötig, die nur durch Zuführen großer Mengen oberflächenaktiver Gallensäuren und Phospholipide erreicht werden kann. Quantitativ überwiegen die biliären Fette im Darm die Nahrungsfette um das Zwei- bis Vierfache. Durch die Wirkung der verschiedenen Lipasen werden neutralere Lipide wie Triglyzeride, Cholesterinester oder Lezithin in kleinere, relativ wasserlöslichere Bruchstücke wie Fettsäuren, Monoglyceride, Cholesterol oder Lysolezithin aufgespaltet, die sich ebenfalls an der Wasser-Öl-Grenzfläche konzentrieren und diese weiter vergrößern. Durch die kontinuierliche Verschiebung zugunsten oberflächenaktiver Moleküle werden die Emulsionströpfchen immer kleiner: von multilamellären über unilamelläre Vesikel (mit Lipiddoppelmembranen) zu gemischten Mizellen, die so klein sind, dass sie nur mehr eine Einzelschicht oberlächenaktiver Moleküle ohne nennenswerten Inhalt darstellen. Diese winzigen Gebilde können nun in die Schleimschicht der Enterozyten diffundieren, die durch einen Na+-getriebenen Protonenantiporter angesäuert wird (der Dünndarminhalt ist durch das Pankreas-Sekret alkalisch). Im sauren Milieu werden die bis dahin ionisierten Fettsäuren protoniert und können durch non-ionic diffusion leichter in den Enterozyten gelangen. Die Aufnahme von Lipidbestandteilen wird auch durch Transportproteine erleichtert. Langkettige Fettsäuren werden z. B. über CD36 aufgenommen. In der Zelle werden die Lipide wieder zusammengesetzt und basolateral als Chylomikronen in die Gewebslymphe freigesetzt. Von dort erreichen sie das Blut im Venenwinkel über die Lymphwege unter Umgehung der Leber. Wird zu wenig Galle in den Darm ausgeschüttet, können Nahrungsfette nur unzulänglich resorbiert werden; der Großteil der Nahrungsfette wird in hellen, voluminösen "Fettstühlen" (Steatorrhoe) wieder ausgeschieden.

Hält dieser Zustand länger an, kann es zu einem Mangel an fettlöslichen Vitaminen kommen. Insbesondere der Mangel an Vitamin K kann zu einer Verstärkung der bei einer chronischen Leberfunktionsstörung ohnehin auftretenden Gerinnungsstörung führen (siehe nächsten Abschnitt). Verglichen mit Vitamin K sind die weiteren fettlöslichen Vitamine von geringerer klinischer Relevanz. Vitamin A wird hauptsächlich in Ito–Zellen gespeichert und gebunden an das auch in der Leber synthetisierte Retinol-bindende Protein im Blut transportiert; sein Mangel macht sich durch verschlechtertes Sehen bei Dunkelheit bemerkbar. Vitamin D wird entweder als Vorstufe mit der Nahrung aufgenommen, oder die Vorstufe wird durch Aufbrechen des Cholesterol-Grundgerüsts durch UV-Einwirkung in der Haut gebildet. In beiden Fällen muss diese Vorstufe in Hepatozyten durch ein Cytochrom P450-Enzym an der Position 25 hydroxyliert werden. Das ist der erste notwendige Schritt, um es in seine aktive Form 1,25-Dihydroxycholecalciferol umzuwandeln, gefolgt von einer zweiten, parathormonregulierten Hydroxylierung in der Niere an Position 1. Vitamin-D-Mangel vemindert die Ca2+-Reserven des Körpers und damit die Knochenmineralisierung. Für das Antioxidans Vitamin E sind keine klar umschriebenen Mangelerscheinungen bekannt.

Pharmakologische Querverstrebung:

·     Das Transmembranprotein NPC1L1 (Niemann-Pick C1-Like 1) ist am Transport von Cholesterol aus dem Darmlumen in die Enterozyten beteiligt. Ezetimib kann diesen Transport blockieren, sodass einerseits Nahrungscholesterol und andererseits mit der Galle sezerniertes Cholesterol an der Aufnahme gehindert wird. Es bewirkt damit eine Absenkung des LDL-Cholesterolspiegels, die jedoch schwächer als jene durch Statine ist.

·     Orlistat blockiert Lipasen im gastrointestinalen Lumen kovalent und damit irreversibel. Es ist in der EU zur Gewichtsreduktion zugelassen. Ungespaltene Fette können nicht resorbiert werden. Die Behandlung erzwingt Nahrungmitteldisziplin, da bereits eine relativ bescheidener Fettgehalt der Nahrung zu explosiven Diarrhöen mit Fettstühlen führt.

 

Funktion: Plasmaproteinsynthese (Albumin, Gerinnungsfaktoren, Akutphaseproteine, Transferrin, etc.)
Störung:    -Hypoproteinämie/Ödeme

                        -Gerinnungsstörungen

Der Großteil der Plasmaproteine wird von der Leber synthetisiert und sezerniert. Chronische Leberfunktionsstörungen führen daher zu einem Abfall der Plasmaproteinkonzentrationen. Albumin, das mengenmäßig etwa 60% der Plasmaproteine ausmacht, ist über seinen Beitrag zum onkotischen Druck wesentlich dafür, im venösen Schenkel von Kapillarsystemen interstitielle Flüssigkeit rückzuresorbieren und damit das Blutvolumen aufrecht zu erhalten. Der zu niedrige onkotische Druck führt zur Einlagerung von Wasser im interstitiellen Gewebe. Da eine chronische Leberinsuffizienz häufig mit Zirrhose und portaler Hypertension einhergeht, bildet sich durch die Kombination von erniedrigtem onkotischen Druck und erhöhtem Filtrationsdruck häufig ausgeprägter Aszites.

Akutphasenproteinewie C-reaktives Protein (CRP) oder mannanbindendes Protein (MBL), die zur Infektbekämpfung beitragen, werden im Immunologieskriptum besprochen.

Gerinnungsfaktoren sind bei Leberinsuffizienz von zwei Seiten her negativ betroffen: zur allgemein herabgesetzten Syntheseleistung der Leber kommt noch der sekundäre Vitamin K-Mangel. Vitamin K wird benötigt, um eine zusätzliche Carboxylgruppe an Glutaminsäurereste der Faktoren II, VII, IX, X zu hängen. Diese COO-Gruppen werden benötigt, damit die Gerinnungsfaktoren über Ca2+ an die Phospholipide der Membran aktivierter Thrombozyten binden können (eine gute Methode, um das Gerinnen einer Blutprobe zu verhindern, ist es, Ca2+ durch Zitrat oder EDTA zu binden). Fehlen diese COO-Gruppen, ist die biologische Aktivität dieser Gerinnungsfaktoren stark herabgesetzt. Vitamin K wird auch im Knochen zur Synthese von Ca2+-bindenden Proteinen wie Osteocalcin benötigt. Symptome durch Vitamin-K-Mangel machen sich natürlich weit früher in der Blutgerinnung als im Knochen bemerkbar.

Pharmakologische Querverstrebung: Cumarinderivate (Acenocumarol, Phenprocoumon) sind Vitamin-K-Antagonisten. Mittels dieser Medikamente wird also ein künstlicher Vitamin K-Mangel erzeugt, um die Gerinnbarkeit des Blutes herabzusetzen (z. B. nach einer Lungenembolie). Durch den biologischen Mechanismus wird auch klar, dass es nach  Absetzen dieser Medikamente, z. B. für einen zahnmedizinischen Eingriff, relativ lange dauert, bis funktionierende Gerinnungsfaktoren nachsynthetisiert werden können.

 

Funktion: Monitoring des Einstroms vom Darm her in einem Niederdruckkapillarsystem
Störung:    Portale Hypertension

Alle Einwirkungen, die zu einem ausgeprägten Absterben von Leberzellen führen (z. B. Virushepatitis, Alkohol, anhaltende Cholestasen) führen über Regenerationsversuche auch zu einem sekundären Umbau der Leber. Zusätzlich werden die Sternzellen (Ito-Zellen) aktiviert, verstärkt extrazelluläre Matrix in der Form von Kollagen und Proteoglykanen zu bilden: es entsteht eine Leberfibrose. Der Stoffaustausch zwischen Blut und Hepatozyten wird durch eine Abnahme an Endothelzellfenestrationen und verlängerte sowie verdichtete Diffusionsstrecken behindert. Diese  Veränderung der Architektur schließt die Gefäße mit ein und resultiert in einer Verringerung des Gesamtquerschnitts aller Pfortaderverästelungen und damit in einem Druckanstieg (man kann sich das bildlich wie eine "Verstopfung des Filters" vorstellen). Folgen dieses Druckanstiegs sind Hypersplenismus, die Ausweitung portocavaler Anastomosen und eine verstärkte Aszitestendenz.

Hypersplenismus bedeutet, dass Blutzellen verstärkt in der Milz zurückgehalten ("sequestriert") werden. Die Milz nimmt dadurch wesentlich an Größe zu; schließlich erfolgt auch ein verstärkter Abbau von Blutkörperchen und Thrombozyten.

Shunts über portocavale Anastomosen bedeuten, dass das vom Darm kommende Blut an der Leber vorbei ("ungefiltert") in den großen Kreislauf gelangt. Zu den dadurch verstärkten Erscheinungen der Leberinsuffizienz kommt noch die Gefahr schwer zu stillender Blutungen aus Ösophagusvarizen.

Beim hepatorenalen Syndrom kommt es durch mehrere Mechanismen – Volumenverlust aus dem Gefäßsystem, arterielle Vasodilatation im Splanchnikusgebiet – zu einer Reduktion des Kreislaufvolumens und damit einer renalen Vasokonstriktion, die zu einer ausgeprägten Funktionseinschränkung der Niere führen kann. Der juxtaglomeruläre Apparat versucht den Rückgang des effektiven Kreislaufvolumens durch Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteronsystems zu kompensieren; der sekundäre Hyperaldosteronismus verstärkt seinerseits den Aszites durch Na+- und Wasserretention.

 

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QUELLEN UND WEITERFÜHRENDE LITERATUR:

Höfler G. et al. (Hrsg.): Pathologie, 6. Auflage, Urban und Fischer, 2019

Schwarz et al. (Hrsg.): Pathophysiologie, Maudrich, Wien, 2007

Siegenthaler W. und Blum H. E.(Hrsg.):
Klinische Pathophysiologie, 9. Auflage, Thieme, Stuttgart, 2006

auf Englisch:

Kumar V. et al. (eds.): Robbins and Cotran Pathologic Basis of Disease, 10th Edition, Saunders, Philadelphia, 2020

Boron W. F. and Boulpaep E. L. (eds.): Medical Physiology, 3rd Edition, Elsevier, Philadelphia, 2016